Kapitel 2: Aggression

Einführung

Aktivwerden: Wechsel in den Aktivpol.

Im Verlauf einer aristotelisch strukturierten Erzählung entsprechen die Aktivpole oder das Aufbrechen der Aggression dem zweiten Akt im Erzählstück. Von der dramatischen Struktur her handelt es sich um das Scheitern eines Lösungsversuchs. Der*die bisher passive Held*in, der*die an der Welt und ihren Missständen persönlich gelitten hat, wird nun aktiv. Die Aggression ist dabei zunächst keine negativ besetzte Kraft, sondern einfach der Gegenpol zur bisherigen Passivität. Es werden innere Kräfte mobilisiert.

Der*die Held*in versucht etwas. Sie*er versucht, sich zu helfen, sich zu befreien, die Umstände zu verändern, die sie*ihn bisher bedrängt haben. Instinktiv-impulsiv versucht sie*er es zunächst mit dem Gegenteil zu ihrem*seinem bisherigen Verhalten. Wurde sie*er bisher unterdrückt, mobilisiert der*die Held*in nun seine*ihre Kräfte und strebt versuchsweise danach, andere zu unterdrücken, am liebsten diejenigen, die bisher die Unterdrücker*innen waren (Geschichten über Mobbing und Unterdrückung). Wurde sie*er bisher oft verlassen und im Stich gelassen, verleitet der instinktive Impuls den*die Held*in dazu, sich jemanden zu suchen, den sie*er an sich binden kann (Geschichten über Eifersucht und Vereinnahmung). Hat sie*er bisher Nachteile erlitten, weil es ihr*ihm an Wissen gefehlt hat, wird sie*er zunächst das wenige Wissen, das sie*er sich bisher erwerben konnte, so gut wie möglich auszuschlachten versuchen, auch wenn sie*er dazu zum*zur Besserwisser*in oder sogar zum*zur Hochstapler*in mutieren muss (Geschichten über Unterlegenheit und Unterschätztwerden). Die Mechanismen, die das Individuum vom Passivpol in den Aktivpol wechseln lassen, sind natürlich wesentlich komplexer und vielfältiger und werden in der Literatur auch so reichhaltig erzählt, wie sie sind. 

Als Gemeinsamkeit steht hinter allen diesen Wechseln (die noch keine Emanzipation darstellen, sondern lediglich einen Moduswechsel einläuten), dass der Mensch kein Opfer der Umstände mehr sein will, sondern die Gestaltung der Umstände aktiv in die Hand nehmen will. Diese Aktivierung macht das Opfer noch nicht zum Täter im juristischen Sinne, wohl aber zum tätigen und vielleicht im moralischen Sinne zum tätlichen Menschen. Und das ist eine sehr gute und notwendige Entwicklung im Prozess der Menschwerdung. Ohne diesen Schritt – auch wenn er noch seine ganz eigenen Probleme mit sich bringt – geht es nicht voran.

Der Grund, weshalb die auf dieser Entwicklungsstufe gewählten Strategien im Hinblick auf ein größeres Menschheitsziel (z. B. Frieden, Freiheit oder Gleichwürdigkeit zu erlangen oder selbstbestimmt zu leben oder wahre Liebe zu verwirklichen etc.) scheitern, liegt darin, dass diese gegenpoligen Verhaltensweisen weiterhin von der Angst motiviert sind. Man will irgendetwas nie wieder erleben, fürchtet sich also noch immer vor dem gleichen Defizit, vor dem man im Passivpol die Flucht angetreten hatte, und was man stattdessen jetzt bekämpft, ist noch immer das empfundene Defizit und die Angst. Indem man mit dem neuen Kampfgeist die Aufmerksamkeit noch immer auf den Mangel lenkt, nährt man ihn weiterhin. Außerdem entspringen die Maßnahmen, die man im dualistischen Gegenpol ergreift, noch immer den impulsiv-instinktiven Kompensationsstrategien des inneren Kindes und entsprechen nicht einem auf Werten basierenden erwachsenen Verhalten. Der Versuch der Befreiung scheitert, weil die Kontrahenten über die gemeinsame Angst, von der man sich bisher nicht emanzipiert hat, aneinandergekettet bleiben. Bildlich gesprochen ziehen stärkere Sicherheitsmaßnahmen, um seinen Besitz zu schützen, nur geschicktere Diebe an, solange Dieb*in und Bestohlene*r über die Angst vor Mangel weiter miteinander in Resonanz stehen.

Die Dramentheorie und das Leben lehren uns, dass eine echte Lösung erst herbeigeführt wird, wenn im dritten Akt des Erzählstücks echte Werte eingeführt werden, für die die*der Held*in ab jetzt kämpft. Für etwas zu kämpfen mobilisiert die Aggression auf einer höheren Ebene, als es geschieht, wenn man gegen etwas kämpft. Für etwas zu kämpfen leitet die Emanzipation von etwas ein, nämlich von den Ängsten und kindlichen Lösungsmustern und vom prärationalen, mythischen Bewusstsein.

Die Ausbildung der Werte und einer persönlichen Haltung wird also der nächste Schritt im Prozess der Selbstwerdung sein, nachdem man mit dem aktivpoligen Verhalten notwendigerweise eine Zeitlang in seinem Leben gescheitert ist, seine wahren, und zwar hohen Menschheitsziele zu erreichen. Theoretisch genügt die Zeitspanne von sieben Jahren im Alter von etwa 7-14 Jahren, die Zeit, in der man sich ausprobiert und eben sich selbst – am besten staunend und damit kreativ – erfährt. In dieser Lebensspanne wird die Lebensqualität der Neugier verwirklicht, die im Jahresverlauf dem Monat April zugeordnet ist. Man will einfach ausprobieren, was sonst noch geht, welche Kräfte in einem stecken, wie es anders wäre, wenn man sich mal anders verhielte, sich nicht mehr alles gefallen ließe. 

Zwischen 14 und 21 Jahren könnte theoretisch schon die Selbstreflexion der bisherigen Strategien und ihrer erzielten Wirkungen einsetzen. Empirisch beobachtbar ist aber, dass diese Reflexion erst wesentlich später im Leben stattfindet (wenn überhaupt). Das Hauptproblem der Menschheit (und ihres atomaren Aufrüstens) besteht doch darin, dass die meisten Menschen ihre Lösungsansätze ihr Leben lang nur aus den beiden dualistischen Polen schöpfen und sich nie darüber hinaus entwickeln. Dazu brauchen wir dem Menschen gegenüber nicht die Frage nach seinem Gutsein oder seiner Schlechtigkeit zu stellen. Der Mensch ist seine Menschlichkeit betreffend derzeit einfach unreif. Er ist noch nicht sehr weit fortgeschritten in seiner Bewusstseinsentwicklung gegenüber dem menschlichen Potenzial eines integralen Bewusstseins. Darum schöpft er im Allgemeinen nur ein Drittel seines Potenzials aus (im Dreieck zwei von sechs möglichen Polen) und lässt den gesamten Rest seines Entwicklungspotenzials brach liegen, weil er nichts davon weiß. Er*sie weiß nicht, welche Fähigkeiten in ihm veranlagt liegen, wer sie*er in Wahrheit ist und sein könnte und mit ihr*ihm die Welt, zu welchem Beitrag sie*er nämlich persönlich in der Lage wäre. 

Der Mensch hat bisher nur eine schwache Ahnung von diesem immensen Potenzial, aber immerhin schimmert diese Ahnung durch die noch etwas unzureichenden Handlungen im Aktivpol bereits hindurch. Könnte man diese Handlungen systematisch auf ihren verborgenen Wert hin untersuchen und die Werte gezielt herausarbeiten, wäre der Weg der Emanzipation beschritten. Im Drama entspricht dieser Schritt dem dritten Akt, der überraschenden Wende. Als Menschheit stehen wir am Ende des zweiten Akts und müssen jetzt entscheiden, was genau die Wende einläuten soll. Glücklicherweise sind einige Menschen bereits über den dritten Akt hinaus gegangen und reichen von dort mit ihrem Licht der Vernunft in das Ende des zweiten Aktes hinein. In den Märchen und Mythen handelt es sich dabei um die Mentor*innen, die zum Beginn des dritten Aktes auftreten und den*die Held*in mit ihrem Wissen über den Weg unterstützen, den sie selbst bereits gegangen sind. Sie können den*die Held*in aber nur unterstützen, wenn sie*er es will und die Unterstützung annimmt.

© Ariela Sager

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