Wir kommen auf die Welt und auf den ersten Blick scheint es so, als seien alle Türen verschlossen. Wir haben keine Ahnung, was hinter den vielen Türen liegt. Natürlich drängt es uns, es zu erfahren, denn dazu ist das Leben ja da. So liegt es in unserer Natur. Jede geschlossene Tür stellt eine Sinnanfrage an uns, nämlich die, wie wir mit der geschlossenen Tür umgehen wollen. Die Tür ist geschlossen: Was machst du jetzt und als was erweist du dich durch deine Antwort?, fragt das Leben.
Manchen Kindern fällt es nun ein, impulsiv gegen verschlossene Türen zu springen, die Tür gewaltsam öffnen zu wollen und sich das, was dahinter liegt, schnell anzueignen. Ein Vorgehen von dieser Energie wird im Aktivpol praktiziert – und manchmal nicht nur von Kindern, sondern ein Leben lang. Da, wo Türen aber Behutsamkeit und eine allmähliche Heranreifung verlangen, kann der Aktivpol nicht mithalten. Einen impulsiven Menschen, dem es (noch) an Ausdauer und Beharrlichkeit fehlt, sich die Substanz zu erschließen, die die Tür öffnen könnte, dem bleibt eine Tür vielleicht sogar auf ewig verschlossen. Da der Aktivpol dieses anhaltende Nichtwissen aber nicht ertragen kann, kommt es hier auch zum Kompensationsversuch. Man versucht einfach, vorzugeben, bereits zu wissen, was hinter der Tür liegt, der gegenüber man es bisher versäumt hat, sich ihr mit Bedachtsamkeit zu nähern. Man versucht, sich selbst und anderen zu beweisen, dass man das, was hinter der Tür liegt, trotz allem wisse und beherrsche, auch wenn man sich bisher noch nicht in ausreichendem Maß um Wissen und Beherrschen der Materie bemüht hat, entweder, weil man sie nur schnell und oberflächlich zur Kenntnis genommen hat oder weil es mehr Zeit bräuchte, sich die ganze Menge an Materie zu erschließen.
Ganz in der Tiefe drängt es jeden lebendigen Menschen danach, sich die Türen aufzuschließen, denn darin, sich diese Türen öffnen zu können, dazu in der Lage zu sein, liegt der Wert des Lebens. Für jede Tür lohnt es sich, zu leben und sich anzustrengen. Je mehr Türen jemand sich aufschließt oder je gewichtiger ihr*ihm der dahinter liegende Raum erscheint, den sie*er sich nach und nach erschließt, als desto wertvoller erlebt sie*er das Leben – und auch sich selbst. Das eigene Wertempfinden gegenüber dem Leben steht also mit der persönlichen Kompetenzentwicklung in einem Zusammenhang. Deshalb meinen wir mit der Angst, nicht gut genug zu sein, sowohl die Unzulänglichkeit als auch die Wertlosigkeit zugleich. Der Wert des Lebens aber, so fühlen wir es instinktiv und intuitiv, besteht darin, nicht vor verschlossenen Türen stehen zu bleiben, sondern immer mehr zu erfahren, zu verstehen, zu wissen: von sich selbst und vom Leben.
Der Beweiszwang des Aktivpols des ersten Beziehungs- und Entwicklungsdreiecks versucht nun mit einiger Dringlichkeit, herauszustellen, was man sich bereits erarbeitet und an Wissen und Kompetenz angeeignet hat, wie kompetent man dem Leben gegenüber schon geworden ist, wie gut man das Wissen also beherrscht und sein Leben unter Kontrolle hat. Die Kontrolle ist das zugehörige Grundbedürfnis. Die Unzulänglichkeit ist die Urangst zu diesem Thema. Indem man sich rechthaberisch und kontrollsüchtig auch in das Leben anderer einmischt und seine Kapazitäten aufzwingt, schlägt man in seiner Angst vor Unzulänglichkeit über die Stränge.
Unwissend auf die Welt zu kommen und unwissend zu bleiben, also nichts Nennenswertes dazuzulernen, bevor man das Wenige, das man doch gelernt hat, schon wieder zu vergessen beginnt, weil man es in einer solch ignoranten Lebenshaltung kaum anwendet, versetzt die Seele in echte Angst. Diese Angst setzt sich über den seelischen Bewusstseinsstrom an das psychische Unterbewusstsein fort und beeinflusst von dort durch das Angstmerkmal des Beweiszwangs im Aktivpol und der Selbstverleugnung im Passivpol das (unreife) Verhalten.
Nichtwissen ist keine Schande. Es wird sogar legitimerweise bis zum Ende eines Lebens dabei bleiben, dass der einzelne Mensch sich von der Gesamtheit des verfügbaren und rasant zunehmenden weltweiten Wissens das Meiste nicht erschlossen haben wird. Dasjenige aber, über das er sich im Laufe seiner endlichen Inkarnation zu unterrichten wünscht, liegt ihm als veranlagtes Drängen vor. Seine Neigungen geben ihm Auskunft darüber, um welche Wissensgebiete es sich handelt, in denen die Seele forschen und in die sie hineinwachsen will.
Der Beweiszwang einschließlich des Hochstaplertums und der Rechthaberei könnten mit der Frage beruhigt werden: „Auf welchem Gebiet wünschst du dir, ein*e echte*r Expert*in zu werden – und warum?“ Wer nämlich sein Warum kennt, nimmt auch einen etwas mühsames Wie und einen länger anmutenden Bildungsweg oder Weg der Selbstunterrichtung in Kauf. Mit der Beantwortung der Frage, warum (Veranlagung) und vielleicht sogar schon wozu (Ziel) man nach einem bestimmten Wissen strebt, leuchtet es dem inneren Kind ein, dass die Aneignung von Substanz von Nöten ist und man nicht mit Halbgarem schon losstürmen darf. Im harmloseren Fall macht man sich „nur“ unglaubwürdig, aber im schlimmeren Fall könnte man erheblichen Schaden anrichten. Was also will man von der Welt warum wissen und wozu will man dieses Wissen einsetzen? Vom Ende der Fragen her betrachtet wird einem klar sein, wie sorgfältig und gründlich man im Wissenserwerb vorzugehen hat und welchen Türen man sich überhaupt nähern will, um sie mit dem passenden Schlüssel der Bestimmung (über die die persönliche Neigung spricht) zu öffnen. Jetzt könnte sich das Nichtwissen zur Inspiration des Wissenwollens transformieren und sich auf dieser Ebene zur Eigenkraft des Lernens und Wachsens entwickeln.
© Ariela Sager