Aus all dem Lug und Trug, mit dem wir alle in den Aussagen über unsere Person und über das Wesen der Welt und des Lebens heranwachsen, entstehen Irrungen und Wirrungen aller Art. Menschen lernen – und glauben es bis in ihr Erwachsenenalter hinein – sie würden von ihren Gefühlen und Emotionen beherrscht werden müssen und sie hätten keine andere Wahl, als sich von ihnen beherrschen zu lassen. Aussagen wie, „so bin ich nunmal“, werden zu einer Überzeugung über sich selbst, deren Grundlage eine freiheitsberaubende Erzählung ist. „Ich kann ja nicht anders“, sagen sie verzagt, wenn es um Lust-, Unlust- oder Angstgefühle geht, die einen antreiben oder behindern. Das sind solche Irrungen und Wirrungen, die aus dem Lug und Trug über die wahren Zusammenhänge und Entwicklungsmöglichkeiten des Menschseins entstanden sind.
Dem Kind, das zum ersten Mal ein Meideverhalten mit dem Satz, „ich kann nicht“ begründet, müsste die Hand gereicht werden mit der Aussage: „Vielleicht kannst du es noch nicht, aber du kannst es lernen und ich helfe dir dabei.“ Dem Kind, das einer solchen Aufforderung, sich der Entfaltung seiner Fähigkeiten zu öffnen, ein „aber ich habe Angst“ entgegenschleudert und fliehen will, müsste mit noch immer ausgestreckter Hand die Wahrheit gesagt werden: „Du hast Angst und du kannst es trotzdem tun, denn du bist stärker als die Angst. Du bist frei über die Angst zu entscheiden. Nicht sie entscheidet, sondern du. Sie warnt dich nur, gut auf dich aufzupassen.“ Einem Kind müsste klar gemacht werden, dass Angst immer nur das Gefühl ist, das das Neue und Unbekannte begleitet, damit der Organismus aufmerksam wird und nichts Wichtiges übersieht. Die Angst will gar nicht verunsichern und von einer Handlung abhalten. Sie will nur zur Achtsamkeit (Yin) und zur Behutsamkeit (Yang) mahnen. Mehr will sie nicht. Gehen wir dann vorsichtig und umsichtig vor, zieht sich die Angst zurück. Sie bleibt aber bestehen, wenn wir das Vorangehen unterlassen. Dann wird sie bei der nächsten Gelegenheit sogar stärker. Sie warnt dann lauter, weil mit der letzten Warnung nicht angemessen umgegangen wurde. Bei der letzten Warnung hat man es versäumt, der angstvollen Erzählung darüber, was alles passieren könnte, die Realität entgegenzuhalten: Entweder die Angst hat Recht und man wählt das nächste Mal einen anderen Weg. Oder sie hat Unrecht, dann wurde sie widerlegt.
Ein Kind, das jetzt Angst hat, muss an die Hand genommen werden, statt dass man der Angst erlaubt, das Kind zu verunsichern und Zweifel an sich selbst in sein Bewusstsein zu streuen. Die Angst ist eine Erzählung der inneren Schutzinstanzen. Es ist gut, dass es die Schutzinstanzen gibt, denn sie warnen in der Tat vor der Gefahr, verletzt, überfordert, übergangen, bestohlen, betrogen oder gar getötet zu werden. Darum muss die Erzählung angehört werden. Die Schutzinstanzen sind aber keine Entscheidungsträger. Sie sind Erzählinstanzen. Sie können nur Unsicherheit streuen, die bei unsachgemäßem Umgang mit den Erzählungen dazu führt, dass das Leben vermieden wird. Entscheidungsträger können nur die Einstellungswerte (Yin) sein. Sie entscheiden darüber, wie die Eigenkräfte im Individuum verwendet werden. Sie entscheiden, welche Teile des Gehirns in Anspruch genommen werden, um einer Herausforderung zu begegnen. Die Angst verwendet nur das limbische System. Die Vernunft und die Liebe verwenden auch das gesamte restliche Gehirn aus Großhirnrinde und präfrontalem Cortex. Da ein Kind über diese erwachsenen Einstellungswerte noch nicht verfügt, müsste der*die handreichende Erwachsene ihm seine*ihre Werte leihen und eine Gegenerzählung anbieten:
Die Angst will dich vor Verletzung und Überforderung warnen. Wir danken ihr dafür und du kannst mir sagen, wann du genug hast und die Situation beenden möchtest. Ich achte auf dich. Wir machen eine Pause, bevor du dich überlastet fühlst. Wir sind so mächtig, dass wir entscheiden und danach auch handeln können. Wir lassen uns nicht von unserer Angst und auch nicht von der Angst anderer beherrschen. Wir sind frei.
Das wäre eine mögliche Gegenerzählung zur Erzählung der Angst. Es wäre eine Erzählung des Vertrauens. In der Gegenerzählung ist die Erzählung der Angst inkludiert. Sie wurde gehört, ernst genommen, und sie darf da sein. Das ist das Wesen der Toleranz, der späteren Yin-Kraft zum Lebensthema der Transzendenz. Die Angst darf da sein, aber sie darf nicht die Herrschaft übernehmen, weil sie keinen Menschheitswert darstellt, sondern nur eine Warnfunktion hat. Darum wird sie transzendiert. Es sind die Werte, die (später) über das Handeln bestimmen und die das Individuum die Angst transzendieren lassen. Den erwachsenen und reifen Menschen wird kennzeichnen, dass er jeder inneren Instanz ihren Platz zuweisen kann und nicht den Erzählungen der Angst eine verunsichernde Wirkung gestattet, während er seine Werte ignoriert.
Der erste Schritt raus aus der Verunsicherung und aus den Selbstzweifeln, die die Angst erzeugt, wird der sein, sich der Lüge des „ich-bin-nun-mal-so“ bewusst zu werden. Nichts das ist, könnte nicht auch anders sein. Der zweite Schritt wird der sein, seinem inneren Kind die Hand zu reichen, mit ihm zusammen den Erzählungen der inneren Schutzinstanzen zuzuhören, die Komponenten der Erzählungen zu sortieren, den beachtenswerten Teil zu beachten und über den Rest eine erwachsene Entscheidung auf der Basis dessen zu treffen, von dem man will, dass es durch seine Person in die Welt kommt. So entsteht die spätere Eigenkraft der Gelassenheit. Mit ihr kann man auch den angstvollen Erzählungen anderer begegnen, wieder die beachtenswerten Teile beachtend und über den Rest eine werteorientierte, erwachsene Entscheidung treffend. Am Ende hat man vielleicht Angst und zugleich handelt man vernünftig und liebevoll und der Notwendigkeit oder dem für sich als gut Erachteten gemäß.
Erwachsene Menschen, die die emanzipatorischen Schritte nicht gegangen sind, verharren hier in einem Zaudern und Zweifeln, können sich schlecht entscheiden, müssen alles immer wieder überprüfen. Es stellt sich heraus, dass die noch nicht integrierte Konstitution der Hochsensibilität eine hochsensible Person übermäßig lange in diesem Passivpol verharren lassen kann. Die Hochsensibilität verlangt ein hohes Maß an Achtsamkeit und an Behutsamkeit sich selbst gegenüber, was aber erwachsene Werte sind und nicht identisch ist mit dem kindlich-konditionierten Verhalten, wie es sich aus den Selbstzweifeln ergibt.
© Ariela Sager