Ist jeder von uns wohl in der Lage, fünf Menschen zu benennen, die er*sie persönlich kennt als jemand, der*die weiß, wer er*sie ist und der*die seinen*ihren Wert kennt? Drei vielleicht? Oder zumindest einen anderen Menschen? Sich selbst denn? Nein?
Kein Wunder, dass die Welt sich in dem Zustand befindet, den wir anhand von Streit, Entfremdung, Distanz und von Krieg, Armut und Umweltzerstörung zu beklagen haben. Woran merkt ein Mensch eigentlich, dass er*sie wertvoll ist? Und woher weiß er*sie, wer er*sie in Wahrheit ist und worin sein*ihr persönlicher Wert besteht?
Menschen, die nicht wissen, wer sie sind und was sie wert sind, können auch im Gegenüber dessen Wert nicht erkennen und anerkennen, so wie Menschen auch ihre eigenen Gefühle gut kennen müssen, um mit anderen auf empathisch-mentalisierende Art mitfühlen zu können. Alles muss zuerst bei sich selbst erfüllt werden, bevor man es weitergeben kann. Erfüllt durch das Selbst am Ich, durch den inneren Erwachsenen am inneren Kind.
Was aber geschieht auf dem Weg, der eigentlich der Ausbildung der Fähigkeit zur Selbstwertschätzung dienen soll? Selbstwertschwache Menschen geben in ihren möglicherweise übernommenen Rollen als Eltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen etc. ihre individuell und kollektiv erlittenen, bisher nicht integrierten und oft sogar noch nicht mal bewusst gewordenen Selbstwertverletzungen an die Kinder weiter, die sich in ihrer Obhut befinden. Mit Zuschreibungen über angebliche Defizite der Kinder (Unselbstständigkeit, Langsamkeit, Vorlautheit, Wildheit, Begriffsstutzigkeit, Unangepasstheit, Unbrauchbarkeit, Faulheit bis hin zur unterstellten Bösartigkeit) werden Kinder regelmäßig und viele Male in ihrem Leben mit metaphorischen kleinen Nadelstichen oder gar schweren Stockhieben beschämt. Können wir wirklich ein Kind benennen, dem es nie widerfahren ist, dass es beschämt wurde, indem Eltern sich vor anderen negativ über das Kind geäußert haben? Selbst wenn es in einem humorvollen Ton geschehen sein sollte, sieht man den Kindern die Scham an, die manchmal auf den Inhalt der Aussage, manchmal aber auch auf die Aussage an sich zielt. Manchmal schämen Kinder sich, weil derart schlecht über sie gedacht und gesprochen wird, dass sie ihren Wert beschädigt fühlen – und andere davon erfahren. Manchmal schämen sie sich aber auch für den Mangel an Loyalität, der ihnen durch die Bezugspersonen vor anderen widerfährt.
In beiden Fällen, also egal, ob sie auf der Sachebene oder auf der Beziehungsebene hören und fühlen, entsteht eine innere Aufregung, ja sogar ein Stress, der das Kind aus der Einheit mit der Bezugsperson herausfallen lässt. Das Gefühl von Sicherheit wird beschädigt. Instinktiv bekommt das Kind Angst vor der möglichen Bestrafung. Die deklarierte Wertlosigkeit könnte zum Ausschluss aus dem Familienverband oder der Gemeinschaft führen, denkt das instinktive Bewusstsein in der Form des dergestalt alleingelassenen Kindes, das später zum alleingelassenen inneren Kind und dort, zu diesem späteren Zeitpunkt, zum Ego wird. Die Scham ist der Stress des (inneren) Kindes im Hinblick auf die nicht absehbaren Folgen der Abwertung seiner Person. „Wenn ich für diesen Menschen nicht mehr wertvoll bin, was wird dann aus mir?“ Demnach ist die Scham die Stressreaktion der Psyche auf das Bewertetwerden.
Wer dagegen weiß, dass er nicht bewertet wird, kann sogar intime und ganz und gar problematische Aspekte und Schwächen von sich offenbaren, ohne Scham zu empfinden. Die Scham tritt erst mit dem verbal oder nonverbal geäußerten abwertenden Kommentar auf. Dieser Kommentar wird später vom inneren Kritiker reproduziert und führt ebenfalls zur Scham.
Die Menschheit ist aber kaum darin geschult, bewertungsfrei zuzuhören, weil es an Vorbildern und damit an Erfahrung fehlt, sich unbewertet bewegen und äußern zu dürfen. Dazu müsste das Gegenüber verstanden haben, dass es auf sein Werturteil so gar nicht ankommt, wenn man einem anderen Menschen zuhört, ihn unterrichtet, ihn trainiert oder anleitet. Ein Verhalten als angenehm oder unangenehm zu empfinden und über sein Empfinden zu kommunizieren, auch im Hinblick auf eine legitime Distanznahme, ist noch kein Werturteil über den anderen Menschen. Wir müssen den Wünschen anderer Menschen nicht entsprechen, nur weil sie zur Bedürfnisbefriedigung des Anderen an uns herangetragen werden. Eine respektvolle Distanznahme stellt den Wert des anderen Menschen nicht in Frage (obwohl er*sie selbst es an dieser Stelle oft tut), ebenso wenig die respektvoll vorgetragene Bitte, ein bestimmtes Verhalten anders zu handhaben oder zu unterlassen und seine Bedürfnisse bitte selbstverantwortlich oder auf einem anderen Weg zu erfüllen. Für die Selbstabwertung des anderen und die dadurch entstehenden Gefühle kann der*die Distanznehmende natürlich Mitgefühl aufbringen, er*sie kann aber keine Verantwortung für die Gefühle des*der Anderen übernehmen. Diese Einschränkung gilt allerdings nur, wenn die Distanznahme wirklich respektvoll und nicht abwertend vorgenommen wurde. Aber alles, was das Verhalten darüber hinaus wertend einordnet (gut, schlecht, störend, anmaßend, verrückt, gestört, nicht sein dürfend etc.) beschädigt das Selbstwertempfinden des Gegenübers. Zur Betitelung von Menschen mit Zuschreibungen (wie Dummerchen, Faulpelz, Störenfried, Versager oder auch Schurke etc.) ist das Repertoire der Menschheit riesengroß. Die derart betitelten und beschämten Kinder übernehmen die Titel oft genug, in einem Versuch, die Scham auf diese Art zu kontrollieren. Wenn sie sich selbst schon als Versager oder Dummerchen betiteln, machen es die anderen vielleicht weniger und aufgrund dieser Überkooperation erweisen die Kinder sich der in Frage stehenden Gemeinschaft doch noch als angenehm oder nützlich genug, um die Gefahr zu bannen, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Diese Kontroll- und Kooperationsfunktion übernimmt der innere Kritiker. In der Selbstabwertung kommt er der Abwertung von außen zuvor. Damit hat er die Kontrolle über das Maß der Beschämung zurückgewonnen. Er versucht also letzthin, den Selbstwert des Individuums zu schützen und zu sichern.
Die Emanzipation von der Scham findet ihren Anfang in der Erkenntnis, dass es einen besseren Weg der Selbstwertsicherung gibt, als den der vorauseilenden Selbstabwertung. Der bessere Weg wird (später) der Wert der Selbstwertschätzung und der konsequenten Abgrenzung von destruktiven und abwertenden Tendenzen sein. Denn leider muss man vor allem in der digitalen Welt feststellen, dass man gegen den Drang anderer, jemanden zu beschämen, nicht viel ausrichten kann. Aufgrund ihrer Selbstwertunsicherheit zeigen Menschen, die andere abwerten, wenig oder gar keine Anhaltspunkte, für die man ihnen Wertschätzung zukommen lassen könnte. Worin genau ihr eigener Wert besteht, halten sie aufgrund ihrer mangelnden Selbstkenntnis ihren Wert als Mensch betreffend gut verborgen. Ihre sich selbst offenbarende Sprache zeugt nur von Wertlosigkeitsempfindungen. Dann bleibt dem späteren erwachsenen und reifen Menschen nur, den anderen über dessen Verhalten hinweg, das sich auf kindlich-konditionierte Art um eine Selbstwertsicherung bemüht, respektvoll zu behandeln, weil er*sie ein Mensch ist. Der Selbstrespekt wird einem dann gebieten, sich der Respektlosigkeiten anderer konsequent zu enthalten und sich ihnen zu entziehen, was vor allem innerlich geschieht, indem man sich nicht als Projektionsfläche für die Scham- und Minderwertigkeitsgefühle anderer zur Verfügung stellt. So wird es einem dann gelingen, dem sogenannten “Hate Speech” etwas entgegenzusetzen.
Eines der wichtigsten Instrumente der Sozialisation wäre es eigentlich, Kinder darin zu unterrichten, wie man aus der Schusslinie der Schambefeuerung heraustritt und wie man den Stier, der einen verletzen will, an sich vorbeilaufen lässt. Der fundamentalste Weg der Unterrichtung wäre der, Kinder gar nicht erst zu beschämen, sondern sie jeden Tag mehrmals spüren zu lassen, wie wertvoll und willkommen sie in ihrer Welt sind und ihnen auch zu sagen, worin ihr Wert besteht, wofür sie von der Gemeinschaft geschätzt werden. Woran aber merken die Kinder der Welt derzeit, dass sie wertvoll sind? Die Frage bleibt bestehen und muss immer wieder neu gestellt werden. Vermutlich würde der Erwachsenenwelt die Schamesröte ins Gesicht steigen, wenn sie die Antworten vernehmen würde, sollte diese Frage den Kindern wirklich und ernsthaft gestellt werden. Die Antwort würde lauten: Wir wissen es nicht und wir merken es an nichts.
© Ariela Sager