Das Leben besteht aus zwei großen Komponenten: Das, was das Individuum aus sich selbst heraus beeinflussen kann und worin es seinen Beitrag leistet an der Bewegung in der Welt, ist das Eine. Und das, was das Individuum nicht beeinflussen kann, worin es stattdessen von der Welt bewegt wird, ist das Andere. Es gibt eine Charakterorientierung, der das Grundbedürfnis nach Autonomie das Wichtigste der sieben Grundbedürfnisse ist und die sich in ihren Schattenaspekten der ungeduldigen Grenzenlosigkeitsbestrebung (Aktivpol) und der sich selbst begrenzenden Lethargie (Passivpol) nur schwer mit der schicksalhaften Polarität von Leben abfinden kann.
Im Grunde strebt dieser Charakter (der mythologisch gesehen sehr gut zum astrologischen Wassermann-Zeitalter passt) nach Freiheit und Selbstbestimmung (Yin), wie auch danach, seine schöpferische Kraft voll zu verwirklichen (Yang). Die dazugehörige Ressource bestünde aus der sehr guten Selbstkenntnis, der Selbstliebe und der Resilienz.
In der noch nicht ganz entwickelten Persönlichkeit wird dem, was den Menschen schicksalhaft begrenzt, Unmut und Widerstand entgegengebracht. Der kosmische Anteil am Leben wird entweder ausgeblendet oder zu instrumentalisieren versucht. Durchaus zählen die guten alten Gebete noch zu dieser Strategie der Beeinflussung von Schicksal. Häufiger aber versucht eine moderne Spiritualität eine Kombination aus Selbstoptimierung („Du musst nur positiv denken“) und kosmischer Manipulation („Tu so, als sei dein Wunsch bereits erfüllt und als habe das Universum schon geliefert“) zu bewerkstelligen. Dass sowohl der eigenen Entwicklungsmöglichkeit durch die Veranlagung Grenzen gesetzt sein könnten als auch die Wunschverwirklichung von den seelischen Bedingungen nicht unterstützt werden muss, kann einen tief empfundenen Schmerz, ja eine tiefe Verzweiflung auslösen. Moderne Orakelsysteme sagen es doch so verheißungsvoll: Jede*r kann alles, was in der göttlichen Matrix angelegt ist, in sein*ihr Leben hineinziehen. Alles, was bisher transzendent zu unserer persönlichen Lebenserfahrung war, ist der Welt an sich immanent und demnach auch mit jedem Individuum verbunden. So schlüssig diese moderne Erzählung eines Nichts-ist-unmöglich-Mythos klingt, so sehr lässt sie die Hinweise der alten Orakelsysteme (z. B. des chinesischen I Ging oder auch des französischen Lenormand) außer Acht, dass nicht alles zu jeder Zeit möglich sein kann, wenn das Leben als Entwicklungsreise der Seele betrachtet wird.
Im reiferen Entwicklungsstadium zieht die entwickelte Selbstkenntnis in Betracht, dass Entwicklung in Stufen erfolgt und dass die wahre Freiheit (Yin) und die wahre Schöpferkraft (Yang) darin liegen, nicht mehr und nicht weniger verwirklichen zu wollen, als der Veranlagung und den Zeitumständen gemäß möglich ist. Man betrachtet sich als Teil der Matrix, stellt sich darin aber keine unbegrenzte Bewegungsfreiheit innerhalb der Inkarnation vor. Der persönliche Standort innerhalb der Matrix ist entscheidend und wird beachtet. Pro Inkarnation sind die Koordinaten eindeutig eingestellt mit einem Ausgangspunkt und einem Ziel, mit Zwischenetappen und mit möglichen Wegalternativen. Die persönliche Ausstattung gehört zu diesen Koordinaten, die metaphysische Erfahrung der Seele aus anderen Inkarnationen, wie die physische und psychische Veranlagung des Individuums für diese Inkarnation. Charaktereigenschaften, die dem Individuum bald nach der Geburt bewusst werden können liegen im Verein mit solchen, die erst bewusst gemacht werden müssen, was durch den Prozess der Selbstwerdung, eigentlich der Selbstbewerkstelligung oder der Selbstentfaltung, geschieht.
Kosmos und Seele wissen über das alles Bescheid und die hier zugrunde liegende spirituelle Erzählung nennt es Seelenplan. Aber die Psyche muss erst einen Zugang zu diesem seelischen Bereich finden, indem sie über eine Meditationspraxis der Selbstentfaltung das Bewusstsein mit dem Unbewussten synchronisiert und den Zugang über die mögliche Medialität herstellt.
Die Souveränität liegt nun darin, das in der Synchronizität Geschaute zu akzeptieren und mit ihm zu arbeiten. Die Freiheit besteht darin, genau das sein und verwirklichen zu wollen, was die Seele für diese Inkarnation vorgesehen hat. In dieser Freiheit schränkt man sich nicht ein zugunsten von gesellschaftlichen Limitationen, geht aber auch nicht in einen Kampf gegen sich selbst, um Anderes zu bewerkstelligen, als einem seelisch möglich ist.
Die große Schwierigkeit im Hinblick auf die Souveränität besteht für das Individuum allerdings darin, den Teil der Matrix, den man in seinem Leben zu bespielen beabsichtigt, richtig zu lesen und zu verstehen. Ganz oft im Leben werden sich Wegstrecken nach äußeren Erfolgsfaktoren bemessen grundfalsch anfühlen und das dennoch vorhandene innere Ja zu seinem Tun fühlt sich unvernünftig, unverantwortlich und unmöglich an. Souveränität heißt dann, regelmäßig nach der inneren Zustimmung zu schauen und im Fall ihres Vorhandenseins weiter zu machen. Menschen, die ihr Leben darauf verwenden, ein Werk zu erschaffen, das Zeit ihres Lebens unbeachtet bleibt, kennen die Anstrengung, die es bedeutet, den Zweifel an ihrem Platz in der Matrix auszuhalten. Man fragt sich, ob man seine Seele völlig missversteht, ob sie mit diesem Ja etwas anderes meint oder ob man lediglich ein Ja zu vernehmen glaubt, wo keines ist. Man hinterfragt das Wesen des Jas: Handelt es sich um ein Ja zur Bequemlichkeit, nicht am restlichen Leben teilnehmen zu müssen, oder handelt es sich um ein Ja der Konsistenz und sogar des Berufenseins? Ob alles nur Einbildung ist, fragt man sich und den kosmischen Geist. Ein Werk ist doch nicht dazu da, völlig unbeachtet zu bleiben. Und wozu macht der Kosmos sich überhaupt die Mühe, diese wirklich erfahrbare geistige Unterstützung zu leisten, mit der die Arbeit so leicht von der Hand geht? Wenn die historische Zeit zu seiner Beachtung aber noch nicht reif ist, sollte man sich ihr dann nicht lieber später erst wieder widmen? In einer späteren Inkarnation? Und doch basiert das affirmative Gefühl dem Tun und Sein gegenüber nicht nur auf Bequemlichkeit (meistens ist das Leben nicht mal wirklich bequem, sondern erfordert volle mentale Disziplin und bringt handfeste Entbehrungen mit sich) und es basiert auch nicht auf einem bloß subjektiven Empfinden (denn in der Regel ist wirklich ein bedeutsames Werk vorlegbar). Da sind Koinzidenzen zu beobachten, so zuverlässig wie unübersehbar, die das Tun unterstützen, als befände sich eine personifizierte Kraft an der Seite des Menschen: Bücher, Texte und Bemerkungen erscheinen immer zum genau richtigen Zeitpunkt, so dass sie die Arbeit sinnvoll und hilfreich flankieren, dass es kein Zufall sein kann. Das Leben und der Stand der Arbeit ergänzen und befruchten sich gegenseitig mehr als auffällig. Und wenn man den Stift oder den Pinsel aufgesetzt, die Hände auf die Tastatur oder die Tasten gelegt hat, fließen die Werkstücke inspiriert heraus, wie man es aus dem limitierten Denken und Intellekt heraus niemals schaffen könnte. Diese Koinzidenzen bringen die Arbeit entscheidend voran und mit ihr die persönliche Entwicklung.
Souveränität bedeutet jetzt, das Auftreten dieser als absolut sinnvoll erfahrenen Koinzidenzen bei gleichzeitiger Wirkungslosigkeit der Arbeit nicht verstehen zu müssen, vielleicht sogar die Angst vor Versäumnis und auf dem falschen Weg zu sein, deutlich zu spüren und trotzdem weiterzumachen. Trotz allem hoch konzentriert und diszipliniert zu bleiben, das ist souverän. Diese Souveränität geht über die Tapferkeit, wie sie für die Ressource des dritten Dreiecks beschrieben wurde, hinaus. In der Haltung der Souveränität ist die Haltung der Tapferkeit angereichert um eine Gewissheit der Richtigkeit, selbst wenn alles dagegenspricht.
Nicht alles, was unter der Sonne möglich ist, wartet darauf, von jedem beliebigen Individuum beansprucht zu werden, aber das, was einem bestimmten Individuum aufgrund seines Platzes in der Matrix möglich ist, das kann beansprucht werden. Meistens ist es viel mehr, als der so lang begrenzte Geist sich vorzustellen vermag. Und eine ganze Menge bleibt inaktiv, bis wir es wählen. Manches aber wählen wir und es verwirklicht sich nicht unseren Vorstellungen gemäß, weil die Aufgabe größer ist als wir sie uns vorstellen. Souveränität heißt dann, trotz fehlender Vorstellung auf dem Weg zu bleiben, solange das innere Ja sagt, man solle es tun. Das innere Ja sagt, es sei, trotz allen Anscheins, bedeutsam, was man vollbringt. Es fließt bereits in die Matrix ein und verbreitet sich über unsichtbare Wege des Lichts.
© Ariela Sager
Nächster Artikel: Kapitel 7 – Selbstwirksamkeit / Beitrag an die Welt (Einführung)