Den Archetyp des*der Künstler*in verwirklichen
Es gibt einen Punkt im Leben, da wird man von der Schülerin oder vom Schüler zur Lehrerin oder zum Lehrer. Auch wenn der*die Schüler*in dem*der Lehrer*in stets inhärent bleibt, ändert sich etwas. Es ist, als ginge die bisher geschlossene Blüte auf und als verströme sie ab jetzt einen Duft, der in der Welt mit verschiedenen Sinnen aufgenommen werden könne, je nachdem, auf welches Wesen der Duft trifft. Er ist sichtbar wie fühlbar und hörbar, schmeckbar und riechbar. Er ist vernehmbar. Die angesammelte Reife der Pflanze wird jetzt in die Welt hinein verströmt und sie wird dort fruchtbar gemacht.
Sich zu verströmen ist keineswegs eine Option nur einiger privilegierter Menschen, die vom Schicksal die Erlaubnis dazu erhalten haben. Es ist in Wahrheit die Pflicht eines jeden Menschen. Wer sich ihr aus Angst verweigert, versündigt sich an sich selbst und am Leben, indem er*sie sich selbst und das Leben betrügt. Sünde meint hier nicht “etwas Böses zu tun”, sondern meint den Begriff, wie der aus Mittelhochdeutschen stammt in der Bedeutung Sonderung, Sönderung, Sund, also das Äquivalent zur Trennung vom Allganzen in Form der Individuation, die aber im Verlauf der Menschheit in die Selbstentfremdung und in die Inauthentizität geführt hat.
Im Leben eines jeden Menschen kommt es unweigerlich zu einem Punkt, an dem sie*er ihre*seine Erfahrungen zur Unterstützung anderer teilen kann und will und muss. Seine*ihre Konstitution kann es. Seine*ihre Seele will es. Und das Leben sagt: Du musst, um mich nicht zu verschwenden.
Natürlich kann es eine Kunst sein, die man aus dem Herzen heraus ausübt und in der man sich so zum Ausdruck bringt, dass man andere zu berühren vermag: Malerei, Schriftstellerei, Tanz, Musik, etc.. Diese Art von Kunst ist zu diesem Zeitpunkt im Leben, an dem es um die Anwendung dessen geht, was man gelernt hat, mehr als nur die Lust am Schreiben, am Malen oder am Musizieren. Es braucht auch nicht zwingend die Kunst zu sein, die als Medium der Verwirklichung dient. Jeder Beruf, der aus sich selbst heraus einen Sinn hat, kann von diesem Zeitpunkt an als Kunst und im Archetyp des*der Künstler*in ausgeübt werden. Auch dabei kommt es nicht auf den Kunstbegriff an sich an, sondern darauf, dass man seine Fähigkeiten, seine erworbenen Kompetenzen derart mit seiner Intuition und Hingabe veredelt hat, dass es völlig unsinnig, ja sogar ein Betrug an der Welt wäre, seine Gaben weiter für sich zu behalten. Die Gabe will und kann und muss im Dienst an der Welt angewendet werden. Und der Dienst besteht darin, die Menschen wieder mit sich selbst zu verbinden.
Die Lernhaltung kann dann abgelegt werden. Es handelt sich um die Haltung, die von einem Noch-Nicht-Gut-Genug ausgeht. Man ist jetzt gut genug. Man hat sich innerlich reich gemacht. Jetzt will und kann und muss der Reichtum geteilt werden. Es ist das Licht der persönlichen Erkenntnis über das Leben, das geteilt wird, um anderen den Weg ein wenig zu erhellen und zu erleichtern. Der Weg ist schließlich beschwerlich genug. Das weiß jeder von uns. Die See, auf der unser Lebensschiff unterwegs ist, ist rau und stürmisch oder es herrscht Flaute und es ist lange kein Land in Sicht. Nur selten handelt es sich um eine angenehme Segelpartie im Sonnenschein. Allzu oft ist man mit einem schiffbrüchigen Boot auf offenem Meer unterwegs und ist dankbar, wenn eine kleine Insel in Sicht kommt.
Wer aber in dieser See ab irgendeinem Punkt in seinem Leben ein Leuchtturm zu sein vermag, der sollte einer werden und seinen Platz einnehmen. Ein Arzt*eine Ärztin, der*die sich anschickt, im Leben ein Leuchtturm zu sein und sich in seinem Beruf als Mensch zu verwirklichen, ist für seine*ihre Patient*innen anders da als ein Arzt*eine Ärztin, der*die seinen*ihren Beruf zu anderen Zwecken (Prestige, Gehalt, Macht) und nicht für die Menschen ausübt. Der im Beruf verwirklichte Mensch ist tatsächlich da, während derjenige, der bloß sein Brot verdient, es nicht ist.
Es kommt also eine Zeit, in der die Blüte aufspringen und ihren Duft verströmen will. Im Grunde kommt es jetzt nur darauf an, dass man sie nicht daran hindert. Die Beschränkung darf man anderen nicht erlauben und erst Recht nicht sich selbst. Es ist nötig, sich selbst und anderen, die einen behindern wollen, seine Tätigkeit als eine Form von Kunst auszuüben, zu sagen: „Was fällt dir ein?!“ Besonders laut und deutlich sollte man diesen Satz sich selbst sagen, wenn man versucht, sein Licht versteckt zu halten, um nicht das Missfallen anderer zu erregen. Zum Zeitpunkt, an dem die Blüte aufspringen will, ist die Gefahr zu missfallen ohnehin gering, denn das Licht ist nun echt. Es wird von der Würde und der Authentizität flankiert und geschützt. Man kann sich also getrost die Erlaubnis erteilen, vernehmbar zu werden in der Welt und so seine Pflicht dem Leben gegenüber zu erfüllen, anzuwenden, was es einen bis hierher gelehrt hat. Wiederum wird man durch die eigene Verwirklichung ein Vorbild für andere, sich selbst zu verwirklichen. Es könnte aber auch sein, dass man an dieser Stelle das Werk eines anderen unterstützt, und sich auf diesem Weg verwirklicht, indem man der Verwirklichung einer größeren Sache dient. Beides verwirklicht den Archetyp des*der Künstler*in, indem etwas verwirklicht wird.
© Ariela Sager
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