Der Anspruch, zu werden, wer man in Wahrheit ist, ist in der jetzigen Zeit zu einem Topos geworden, der zwar kraftvoll, aber keineswegs klar verständlich ist. Unter dem oft an andere gestellten Anspruch, ihnen gegenüber sie selbst sein zu dürfen, sich nicht verstellen zu müssen, offenbart sich viel zu häufig genau das Missverständnis, man selbst zu sein, stelle puren Egoismus dar. Hier wird dann nicht über die egoistischen Emotionen gesprochen, wie dass man sich neidisch, eifersüchtig, bedürftig, begierig oder wütend fühle, sondern unter der Flagge, ganz man selbst zu sein und sich nicht verstellen zu müssen, werden diese Emotionen ungeniert ausgelebt und an anderen ausagiert. Man fordert die Fürsorge eines anderen einfach ein, nimmt sich, was man will, wütet herum und lässt dem Ausdruck seiner Gedanken freien Lauf, ohne Rücksicht auf Verletzungen. Was hier für Authentizität und Selbstsein gehalten wird, ist in Wahrheit Unbeherrschtheit, Impulsivität und psychische Labilität. Mit dem Selbst hat das wenig zu tun. Mit dem Ego ganz viel. Es ist das alleingelassene innere Kind, das sich, durch einen erwachsenen Menschen ausgelebt, als Zumutung erweist.
Die Selbstwerdung mit dem Ziel, irgendwann als erwachsener Mensch tatsächlich man selbst zu sein, ist aber wirklich der Gegenstand und der Zweck der Reise, die jeder Mensch mit seiner*ihrer Geburt angetreten ist. Das Schwierige und Herausfordernde an dieser Reise liegt darin, dass es keine zuverlässigen Straßenkarten gibt, nach denen man sicher navigieren könnte. Für jedes Individuum stellt sich die Reiseroute als einmalig dar. Dieses Wesen mit dieser Ausstattung auf diesem Weg hat es vorher noch nie gegeben. Navigationssysteme, deren Komponenten jedem individuell und der Menschheit an sich mitgegeben wurden, müssen zunächst programmiert (Werte) und ihre Handhabung (Gefühle) erlernt werden. Individuell sind das die menschlichen Gefühle, die ausgewertet werden müssen, um sich auf seinem Weg entlang seiner Werte und der persönlichen inneren Wahrheit leiten zu lassen. Es sind unsere Werte, die unser Gewissen bilden und die uns einfach besser navigieren lassen, sobald wir sie uns erschlossen haben. Ab einer bestimmten psychischen Reife ist es auch das höhere Selbst, das über verschiedene Medien Orientierung anbietet, zum Beispiel über Weisheitstexte, Orakelsysteme, Kunst – oder ohne eine mediale Vermittlung über die innere Stimme.
Wenn man sagt, der Weg sei das Ziel bei dieser Lebensreise, dann ist zum Beispiel zu erfahren, dass bereits das Erschließen der eigenen Gefühle, der persönlichen Werte und des höheren Selbst in Form seiner Talente und Gaben Ziele der Selbstwerdung sind, während sie zugleich der Weg hin zu sich selbst sind. Hat man seine Werte für sich bestimmt, hat man sich einen wichtigen Richtungsweiser für den Reiseverlauf zugelegt. Zugleich ist man auch ein Stück mehr man selbst geworden, sofern man sich von diesen Werten auch wirklich in seinem Handeln leiten lässt. Das Gleiche gilt für das höhere Selbst. Die spirituellen Gaben dienen uns, den Weg besser auszuleuchten, um ihn leichter und freudvoller gehen zu können. Zugleich sind wir aber wirklich und ganz wir selbst geworden, wenn wir sie schließlich dankbar angenommen haben.
Wenn der Weg aber das Ziel ist, ist damit klar, dass es keine fertigen Landkarten geben kann, nach denen wir uns richten könnten. Selbst nach dem Weg zu fragen, muss unter der Einschränkung stehen, dass der wegweisende Mensch nur von seinem und ihrem Weg sprechen kann, über den Weg des anderen Menschen aber nichts Genaues sagen kann. Von anderen können wir nur Anhaltspunkte und Inspirationen erhalten, die uns auf manchen Wegstrecken zum genaueren Hinschauen veranlassen, damit uns Wegbesonderheiten nicht entgehen oder damit wir eine Idee davon erhalten, was man versuchen könnte, um eine Herausforderung zu meistern. Trotzdem müssen wir immer prüfen, ob der Rat und die geteilte Erfahrung auf unseren eigenen Weg und seine Beschaffenheit anwendbar sind. Oft genug werden sie es nicht sein, weil nie zwei Wege identisch und oft nicht mal vergleichbar sind. Dann müssen wir bei unseren eigenen Navigationssystemen bleiben: bei unseren Werten, unserer Intuition, unserer inneren Wahrheit und dem, was wir bisher über uns selbst herausgefunden haben, unsere Selbstkenntnis also. Sie sind für uns da. Sie begleiten uns wirklich auf unserem beschwerlichen und langen Weg zu uns selbst und erinnern uns auch daran, dass es dieses Selbst wiederum nur als Weg, nicht als Ziel gibt – und dass damit alles in Ordnung ist.
Das Selbst gibt es nur in Form von Leben, und Leben ist Unterwegssein, ist Wandel, ist Begegnung immer wieder aufs Neue mit sich selbst und mit anderen, und das zunehmend aus dem tatsächlichen eigenen Selbst heraus. Alles, was an Begegnung aus den Werten, den Ressourcen und den Gaben heraus geschieht, verwirklicht das eigene Selbst, zu dem hin man auf dem Weg ist. Auch der offengeistige Austausch über die Emotionen und Schwächen, die nicht zum Selbst, sondern zur Selbstentfremdung und zum Ego gehören, verwirklicht das Selbst und weitet die Selbstwerdung weiter aus. In der Fähigkeit, sich zu sich selbst hin zu entwickeln, die*der werden zu können, die*der man ist, liegt der Wert des Menschseins, seine größte Ressource: die Resilienz. Die Resilienz ist die Fähigkeit, das Leben mit allem, was es bietet, dazu zu verwenden, ganz man selbst und darin ganz Mensch zu werden und nach jeder integrierten Erfahrung wieder aufzustehen und weiterzugehen. Die Integration von Erfahrung (5. Dreieck) dient der Reparatur von allem, was am Fahrzeug beschädigt wurde. Die Synchronisierung (6. Dreieck) dient der Neujustierung der Navigationssysteme und der Orientierung im Raum. Und die Selbstbefreiung (7. Dreieck) dient dem Abschütteln des Reisestaubes.
© Ariela Sager
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