7 – Entfaltung

Wenn der Löwenzahn sich voll entwickelt hat und die saftig gelben Blütenblätter sich in Flugschirme verwandelt haben, wird es Zeit für diesen Samen, auch wirklich zu fliegen und wirksam zu werden. Der Samen ist die Frucht der Arbeit der Blume, ihre Ernte. Sie wird über den Wind ausgebracht.

Auf menschliche Verhältnisse übertragen bedeutet diese kleine Allegorie der Pusteblume, dass der Mensch die Aufgabe hat, dasjenige hervorzubringen, das er im Leben wird fruchtbar machen können, seine Werte und seine Fähigkeiten, also seine ihm innewohnenden Kräfte. Die Aufgabe liegt als Wille und subtile Vorstellung in seiner inneren Wahrheit und in seiner Veranlagung vor. Man spürt sie als innere Sehnsucht und als Unzufriedenheit, falls man sich zu weit von seiner Seelenaufgabe, seiner seelischen Bestimmung entfernt hat und sich mit essenzfernen Dingen beschäftigt.

Zum jetzigen Zeitpunkt im Leben hat man jedenfalls alles Notwendige vorbereitet, hat seine Schatten integriert und seine Werte definiert. Sie sind die Frucht, die als Samen der Inspiration nun in die Welt hinaus müssen. Und auch sie brauchen metaphorisch gesehen den Wind. Sie brauchen, dass Mitmenschen das werthaltige Produkt in Anspruch nehmen, dass sie seinen Wert erkennen und von diesem Wert berichten. Wie beim tatsächlichen Wind ist auch der metaphorische Wind nicht beeinflussbar. Zur Entfaltung des Individuums gehört es daher, dass der Erfolg oder Misserfolg als gültiger Teil der Selbstevolution und der Selbstverwirklichung betrachtet wird. Wie die Pusteblume ihre Frucht loslässt, damit der Wind sie davontragen kann, muss auch das menschliche Individuum sein Werk loslassen. Dieses Loslassen und Freiheit gewähren, gehört zur vollen Selbstentfaltung dazu, denn die Freiheit ist der Einstellungswert (Yin) zur Schöpferkraft (Yang). Resonanz und Synchronizität übernehmen die Funktion des Windes.

Wenn die Resonanz für das Werk fehlt, verhält es sich für das Werk wie für den Löwenzahn, der wirkungslos verblüht: Er hat seine veranlagte Aufgabe dennoch erfüllt und hat sich selbst vollständig hervorgebracht, ohne in seiner Entwicklung steckengeblieben zu sein. Indem er bereit war, den Samen in die Welt zu entlassen, hat er sich voll entfaltet. Ob der Wind nun passend weht und der Samen auf fruchtbaren Boden fällt und wieder geeignete Bedingungen findet, um gedeihen zu können, ist nicht mehr Teil seiner Erzählung. Es ist eine neue Erzählung eines anderen Individuums.

Für den Menschen, dem der gesellschaftliche Erfolg seiner Arbeit versagt bleibt, weil er auf sein Werk keine Resonanz erfährt, ist die Übertragung der Metapher der Pusteblume auf seine Selbstentfaltung nicht ganz einfach zu leisten. Die Wirkungslosigkeit ist für den Menschen mit Schmerz und mit wirtschaftlich unangenehmen Konsequenzen verbunden, zumal in einer Gesellschaft, in der die Konvention vorherrscht, den Wert eines Menschen am ausgewiesenen monetären Wert seiner Arbeit festzumachen. Und doch lohnt es sich, die Pusteblumenmetapher in beiden Fällen zu bedenken, im Fall von Erfolg wie von Misserfolg. Es gibt einen Anteil am Erfolg des Werks, der unterliegt innerhalb der Co-Kreation mit dem höheren Selbst und dem Kosmos ganz einfach der Zeit und der Zeitqualität. Die Schöpferkraft des Menschen hat ihre Grenze am Ende der vollen Selbstentfaltung, wie sie bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe möglich ist und bevor die nächste Stufe beginnt, sichtbar und relevant zu werden. Als Individuum weiß man für gewöhnlich nicht, welche Entwicklungsstufen erklommen werden müssen, bevor ein Werk wirksam werden kann. Es sei denn, man erlangt mit seiner Psyche einen Zugang zu seinem seelischen Bewusstseinsstrom. Dann könnte man diese Information von dort, also von jenseits des Denkens erhalten. Und dann heißt es, dass die männliche Kraft im Menschen jedem Menschen zwar die Pflicht auferlegt, sich selbst zu verwirklichen und das, was man an Einstellung und Haltung (die weibliche Kraft) verkörpert auch umzusetzen, dass die Yang-Kraft aber ihre Grenze erfährt, wo der Kosmos und das höhere Selbst ihren Beitrag leisten müssen, wo kosmische Verabredungen zwischen den Menschen in Form von Synchronizitäten eingehalten werden müssen, wo die Yang-Kraft anderer es als Teil der eigenen Entfaltungsmöglichkeit sieht, das Werk eines anderen zu befördern.

Zur Entfaltung und Selbstevolution gehört es, diese Co-Kreation zwischen den Menschen wie auch zwischen Mensch und Kosmos und zwischen Mensch und Natur zuzulassen. Nicht der Mensch, der alles alleine bewerkstelligt, entfaltet sich am besten. Jede*r muss nur für sich die Aufrichtigkeit aufbringen, zu erkennen, ob er*sie ein Werk hervorgebracht hat, das anderen eine Entfaltungsmöglichkeit in der Unterstützung des Werks bietet oder ob es ihrer*seiner Entfaltung dient, sich für ein anderes Werk zu engagieren und ihm zum Erfolg zu verhelfen, um etwas zu bewegen in der Welt. Die Aufrichtigkeit, die Eigenkräfte richtig einzuschätzen, muss vom Individuum aufgebracht werden. Diese aufrichtige Selbsteinschätzung akzeptiert die Botschaft des Unbewussten, wenn es illusionslos über das persönliche Selbstverwirklichungspotenzial spricht und auf die Entfaltungschancen hinweist. Nach dieser aufrichtigen Selbsteinschätzung macht das Individuum sich ganz seiner Aufrichtigkeit entsprechend an die Arbeit, sein Werk zu vollbringen, worin auch immer es bestehen wird.

© Ariela Sager

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