6 – Expansionskraft

Über das, was gerade ist – oder zu sein scheint – imaginativ hinauszugehen, entspricht nicht mehr der kindlichen, prärationalen Illusionsbildung und einer überbordenden Phantasie, sondern der erwachsenen, transrationalen Vorstellungskraft. Sie vollzieht eine geistige Expansion in dem Maße, wie man sich dem Vorgestellten entsprechend verhält und es aktiv anstrebt. Man hat in sich das Potenzial der inneren Größe wahrgenommen und hat auch erkannt, in welcher Fähigkeit sie konkret besteht. Deshalb hört man auf, sich länger wie ein rebellisches und hilfloses Kind zu verhalten, sondern wächst über sein Ego hinaus. Man expandiert in seine volle Größe hinein.

Es bedarf zunächst eines Blicks auf das inspirierende Urbild, das in jedem Menschen liegt, und sei es, dass ein Mitmensch das Licht dieses Urbildes zu spiegeln vermag. Danach aber ist es die Aufgabe jedes Individuums selbst, die erhaltene Inspiration zu nutzen und das bisher auf das konstruierte Selbstbild beschränkte Vorstellungsvermögen auszuweiten. Über das kleine Ego hinaus ist so vieles denkbar, ja sogar bereits sichtbar und spürbar. Die gefühlten Archetypen deuten auf das Urbild hin, wie es später ebenfalls von der Yang-Kraft in die Welt gebracht werden will, um die Welt zu berühren und etwas für sie zu tun. Hier aber geht es zunächst um die Aktivierung der Eigenkräfte. Es geht darum, etwas für sich selbst zu tun.

Allerdings gehört zur Yang-Kraft des sechsten Beziehungs- und Entwicklungsdreiecks auch die Behutsamkeit. Zwar erfasst der expansive Blick intuitiv, was sich unter der Oberfläche abspielt und welches Potenzial sich jenseits der aktuell präsentierten Persönlichkeit befindet, aber nichts darf gewaltsam an die Oberfläche gezerrt werden. Die Ausdehnung des Bewusstseins auf weitere Auraschichten über den Körper hinaus, und deren manifestierbare menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten (Eigenkräfte) muss dem Fassungsvermögen des Nervensystems entsprechen. Das Nervensystem erhöht sein Fassungsvermögen im Laufe einer kontinuierlichen inneren Arbeit, aber das Tempo ist dabei eher gering. Gelassenheit, Rücksichtnahme und Behutsamkeit sind Aspekte der Yang-Kraft, die eine Einweihung in das höhere Selbst begleiten. Jemand anderem aus seiner intuitiven Schau heraus zu sagen: „Ich sehe was, was du nicht siehst“, würde der notwendigen Behutsamkeit schmerzlich entbehren.

Wir können uns selbst in der Transzendenzfähigkeit schulen und auch andere dazu anleiten – beides gehört zur Yang-Kraft des sechsten Dreiecks –, sich nicht nur als kleines begrenztes Ego wahrzunehmen, sondern darüber hinauszublicken, aber wir brauchen das innere Einverständnis dazu. Die Psyche muss Schritt für Schritt vorbereitet werden, damit sie sich mit ihrem seelischen Bewusstseinsstrom zu verbinden vermag. Von dort empfängt sie dann die transzendenten Botschaften, wenn sie dazu bereit ist.

Die Ressource dieses Dreiecks ist das Urvertrauen. Die Yang-Kraft der Behutsamkeit leistet ihren Beitrag zu diesem Urvertrauen, wie sie ebenfalls ihren Beitrag leistet, die ebenfalls im sechsten Dreieck beheimatete Ressource der Rückkehr ins Urbild zu bewerkstelligen. Und zwar schafft sie beides zugleich über das Erzählen. Die Yang-Kraft dieses sechsten Dreiecks, des Dreiecks der Transzendenz, gibt menschenfreundliche und wachstumsfördernde Narrative in die Welt (z. B. in Form von Kultur, Kunst und Literatur). Sie überprüft die kursierenden Narrative auf ihre Menschenfreundlichkeit und Redlichkeit hin (z. B. in Form von Philosophie und Psychologie). Falls es notwendig ist, leistet sie ihren Beitrag zur Transformation der Narrative und zum Sinneswandel (z. B. durch das persönliche Vorbild und den Zeitgeist).

Die Behutsamkeit und die Gelassenheit werden in diesem Prozess der Transformationsbegleitung dadurch gewährleistet, dass man von sich erzählt und für sich spricht und seine reflektierten und integrierten und in Weisheit transformierten Erfahrungen zur Inspiration anbietet. Keinesfalls werden sie übergestülpt oder wird mit ihnen missioniert. Diese beiden Formen würden zum Aktivpol gehören.

Seit Anbeginn der Menschheit bieten Erzähler*innen im Archetyp der Prophetin (das sechste Dreieck hat eine weibliche Energie) ihre aus der Transzendenz empfangenen Botschaften an höheren Einsichten über die Weitergabe von Mythen und Märchen, aber auch von Epen, Gedichten, Theaterstücken, Romanen, Filmen und Liedern an. Damit bringen sie Wahrheit nicht eigentlich in die Welt hinein, sondern machen die in der Welt jenseits der Oberfläche der Manifestationen liegende Wahrheit offenbar. Die geoffenbarte Erzählung ist eine typische Daseinsform der Eigenkraft des sechsten Beziehungs- und Entwicklungsdreiecks. Sie wird von der Yin-Kraft der Inspiration empfangen und von der Yang-Kraft in eine passende (oft künstlerische oder literarische) Form gegossen. Durch das Erzählen erweitern die Erzähler*innen ihr eigenes Bewusstsein und das Bewusstsein anderer für die höhere Wahrheit des Lebens. So dehnt sich das Leben aus und die Erfahrung von Leben wird größer. Darüber nimmt auch die innere Größe zu. In dieser Ausdehnungsfähigkeit zeigt sich die individuelle Expansionskraft der Seele.

© Ariela Sager

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