Die wichtigste Yin-Kraft oder die Haltung, die sich mit den anderen Einstellungswerten zusammen etwa bis zum 35. Lebensjahr entwickelt (wenn alles gut läuft), ist die Güte. Zu ihr gehört auch die Akzeptanz und im Grunde können wir diese beiden Konzepte inhaltlich als deckungsgleich ansehen, auch wenn wir traditionell mit der Güte noch etwas mehr Herzenswärme assoziieren als mit dem Begriff der Akzeptanz. Der antiquiertere Begriff, der zum sich später entwickelnden Edelmut als Yang-Kraft passt, ist die Großmut.
In der Güte sind alle anderen Einstellungswerte enthalten: die Empathie (4. Dreieck), der Respekt und die Wertschätzung (3. Dreieck), die Präsenz, die Vorsicht und die Aufmerksamkeit (2. Dreieck), die Anerkennung und die Ermutigung (1. Dreieck). Sie alle fließen in die Güte und in die Akzeptanz ein und machen einen gütigen Menschen aus. Jemand, der voller Güte oder Akzeptanz auf die Welt blickt, betrachtet die Dinge mit einem ruhigen Geist, der sich des Urteils und damit der Aufregung enthält. Ein gütiger Mensch erfasst ja empathisch-mentalisierend, was in einem anderen Lebewesen vorgeht und ist damit in der Lage, aus ihrer*seiner Präsenz heraus zu unterscheiden, welche Dinge wirkliche Notwendigkeiten sind und wobei es sich um bloße Erzählungen handelt, die auch anders lauten könnten. Bevor man sich also in eine Aufregung hineinstürzt, die einem von außen angeboten wird (z. B. in Form eines Streits oder eines Urteils), nimmt die Akzeptanz zwar mit allen Werten (und Sinnen) zur Kenntnis, dass das Außen die Aufregung gerade als notwendig empfindet, aber sie hält sich selbst heraus. Mit dem eigenen ruhigen Geist hilft man sich selbst, bei sich zu bleiben, ohne die Anderen in ihrem Verhalten zu be- oder verurteilen.
Diese Beruhigung ist ein Prozess und keineswegs eine Unterdrückung der Emotionen. Sie ergibt sich aus der Überprüfung der eigenen Haltung und aus der Aktivierung seiner inneren Werte. Meditation allein richtet da nicht aus, solange im Zuge dieser Meditation nicht Präsenz und Mitgefühl, Respekt und Anerkennung geübt werden – und zwar nicht als bloßes Gedankenkonstrukt, sondern als wirkliche Haltung einem wirklichen anderen Lebewesen gegenüber, wenn das Lebewesen vor einem steht und sich jetzt gerade auf eine Art verhält, die einem nicht zusagt. (Wobei das schriftliche Üben für das Gehirn und seine strukturelle Ausbildung eine adäquate Alternative darstellt, falls die Möglichkeiten des Übens im Alltag fehlen.)
Wenn allerdings jedes Individuum in der Welt die notwendige innere Arbeit unternommen hätte (oder unternommen haben wird!), um eine Haltung der Güte zu entwickeln, würde ihr Einsatz nur noch selten notwendig sein und viel anstrengungsloser ausfallen als bisher. Bisher müssen einige wenige Individuen ein hohes Maß an Energie aufbringen (und das höchste Maß bringt die Erde auf), um den infantilen Unachtsamkeiten und den versehentlichen Würdelosigkeiten der Mitmenschen großzügig zu begegnen. Die Großzügigkeit ist die Yang-Kraft, die die Haltung der Güte verwirklicht und erfahrbar macht. Sobald wir gelernt haben, gütig und großzügig miteinander umzugehen (wir mit der Erde genauso, wie die Erde immer schon mit uns umgeht), die Güte also auf Gegenseitigkeit basiert, könnte sich irgendwann die Ressource des Gleichmuts und der Ruhe als gesellschaftliche Ressource einstellen. Der Weg dahin erfolgt mit dem ersten Schritt, nämlich den Geist durch eine Haltung der Akzeptanz zu beruhigen.
Da die Akzeptanz allerdings darauf zielt, sowohl die eigenen Bedingungen zu akzeptieren, die man sich erfüllen muss, damit das Leben für einen selbst gelingt, als auch die Bedingungen eines anderen Menschen zu sehen, von denen sie*er sagt, dass sie*er für sie sorgen muss, um als Mensch zu gelingen, würde (oder wird!) die Welt eine völlig andere sein, sobald Akzeptanz und Güte in ihr eingezogen sind. Selbstausbeutung, gegenseitige Ausbeutung und die Ausbeutung der Erde sind im Geist der Güte unmöglich. Die in der Güte enthaltene Anerkennung (1. Dreieck), die Präsenz (2. Dreieck), der Respekt (3. Dreieck) und die Empathie (4. Dreieck) bringen jeden gütigen Menschen dazu, die Bedürfnisse eines anderen Lebewesens wie auch seine eigenen zu erkennen und anzuerkennen, mit ihnen mitzufühlen und Verständnis für sie zu haben und den Anderen wie sich selbst als ganzes Wesen zu respektieren, mit allem, was jemand sagt oder anzeigt, was sie*er*es braucht oder wo ihre*seine Grenzen liegen. Ausbeuterische Arbeitssysteme und die grenzenlose Umweltzerstörung hören unter einem vorherrschenden Geist der Güte automatisch auf und die Menschheit zwingt sich selbst (das leistet die Akzeptanz), sich Alternativen zu überlegen. „Ja, aber es geht eben nicht anders, weil das System nunmal so ist, wie es ist“, wäre keine Akzeptanz, sondern weiterhin die Ignoranz gegenüber den Schattenpolen dieses fünften Dreiecks, gegenüber der Gier und dem Geiz. Wenn es so, wie es ist, nicht anders zu handhaben ist, als dass die Erde, die Tiere und die Menschen ausgebeutet werden, muss das, was ist, komplett verändert werden. Das ist Akzeptanz! Nicht das System verdient Akzeptanz, sondern das Leben. Der Fortschritt, zu dem der Menschheitswert der Akzeptanz gehört, zielt auf die Förderung eines lebenswerteren Lebens.
Die am Abgrund der Zerstörung stehende Welt wird also gerettet werden können, sobald eine hinreichend große Zahl an Menschen sich auf den Weg macht, eine Haltung der Güte zu kultivieren. Dazu müssen der Wert des Menschen und der Wert des Lebens erkannt und aktiviert werden: Schattenarbeit, Aktivierung eines selbstbestimmten Wertekanons, Kultivierung der Eigenkräfte, Ressourcenentwicklung, Einweihung in das höhere Selbst. Somit besteht der Wert also in der Entwicklungsfähigkeit, sich vom unreifen Kind zu einem wirklich erwachsenen Menschen zu entwickeln (statt ein unreifes Kind in erwachsen anmutender Menschengestalt zu bleiben). Ist die Güte erst mal der vorherrschende Geist einer Gesellschaft geworden, geht von dieser Gesellschaft ein Geist der Beruhigung in alle Himmelsrichtungen aus. In diesem Geist wird die Erde aufatmen können. Dann kann sie es schaffen, zu überleben und sogar wieder zu gedeihen und zu dem Paradies zu werden, das sie in Wahrheit ist.
© Ariela Sager
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