Jeder Mensch erfährt im Leben Verlust, Krankheit, Misserfolg. Jede und jeder. Ob diese Erfahrungen ausschließlich leidvoll erlebt werden, hängt von der mentalen Reife des Menschen selbst ab, in jungen Jahren aber von der Reife der Bezugspersonen, die das Kind darin begleiten und anleiten, mit Erschütterungen umzugehen. Die Frage, die mit der leidvollen Erfahrung vom Leben gestellt wird und die der Mensch zu beantworten aufgefordert wird, ist die nach dem Inneren des Herzens: Herrscht dort Licht oder Dunkelheit? Leidvolle Phänomene, die unumwunden zum Leben gehören und gefühlt werden wollen, sollen und sogar müssen, versuchen nicht, das Herz zu brechen, um es zu zerstören, wohl aber versuchen sie, es aufzubrechen, um es zu öffnen. Das ist vor allem notwendig, wenn dieses Herz aus Furcht vor dem möglichen Schmerz krampfhaft verschlossen gehalten wird, weil der Mensch als Kind nicht gelernt hat, Leiderfahrungen als Herzensbefragung zu verstehen.
Leiderfahrungen oder die Befragung durch das Leben versuchen, einen Blick auf den Inhalt des Herzens zu ermöglichen, der hinter den Krusten von konditioniertem Denken und automatisiertem Handeln verborgen liegt. Es ist die Herzensbildung, die das wahre Selbst im erwachsenen Menschen herausgebildet haben wird (sonst würde kein Selbst vorliegen), zu dem Menschen in leidvollen Situationen einen oft sie selbst erstaunenden Zugang finden – wenn sie reif genug sind und wenn die Herzensbildung vorliegt.
Menschen, die noch nicht reif genug sind und denen es an Herzensbildung fehlt, deren Bewusstsein noch nicht sehr weit entwickelt ist, fallen im Angesicht einer Krise oder einer Katastrophe in ganz alte Kindheitsmuster zurück, verhalten sich vollends egoistisch und infantil, bedienen all die Automatismen, die mit den vermeintlichen Strategien zum Überleben assoziiert werden, womit die Sicherung der Grundbedürfnisse gemeint ist, allen voran Kontrolle, Sicherheit und Bindung. Die Neurwissenschaft sagt dazu, die Menschen griffen in solchen Situationen auf ihr Steinzeitgehirn zurück.
Ab einem bestimmten Reifepunkt aber bewirkt das Leid einen persönlichen Entwicklungsschritt hin zu sich selbst, so wie eine kollektiv erlebte Katastrophe auch einen kollektiven Evolutionsschritt hin zu mehr Bewusstwerdung gegenüber den kollektiven Werten und damit zueinander hin bedeuten kann. Vielleicht aktiviert man seine Werte zum ersten Mal, allen voran zunächst den Wert des Mitgefühls. Man reagiert auf sich selbst nicht mehr im vielleicht anerzogenen Modus der Unbarmherzigkeit, wie sie sich in Sätzen äußert wie: „Wenn sich alle so anstellen würden wie du, würde die ganze Welt vom Gejammer widerhallen“. Ab irgendeinem Punkt der mentalen Entwicklung oder eben der Herzensbildung erkennt man eine solche Auffassung als lebens- und menschenfeindlich – und legt sie ab. Man legt sich eine neue Haltung zu: eine menschen- und lebensfreundliche Haltung voller Empathie, weil man fühlt, dass diese Haltung der Wahrheit dessen, was wir als Menschen sind, viel näher kommt.
Unter anderem sind wir, so fühlt es das Individuum in diesem Reifestadium, Individuationen der Liebe. Mit der Empathie verkörpern wir unser Bewusstsein für diese Wahrheit. Und die Wahrheit der Liebe lautet: Wir alle stammen aus der gleichen Quelle. Wir alle haben einen langen und schwierigen Weg zu uns selbst zurückzulegen. Und auf diesem Weg geschehen uns allen freudvolle und leidvolle Dinge. Die Ereignisse dienen uns als Frage nach unserer Wahrheit. Mit unserem Lebensvollzug geben wir Antwort und erschaffen einen Sinn, der den Dingen nicht von sich aus innewohnt. Stattdessen wird von den Dingen nach dem Sinn gefragt. Wer eine destruktive Antwort gibt, weiß noch nicht viel von seiner Wahrheit und hat noch keinen Zugang zu ihr. Wer eine konstruktive Antwort geben kann, hat sich seine Wahrheit schon ein Stück weit erschlossen – und hat dazu sein Herz aufgeschlossen. Aus diesem aufgeschlossenen Herz heraus weiß die Liebe um den Wert des Leids, der darin liegt, eben über den Prozess der Reise und der Erfahrung das Herz zu öffnen und Zugang zu den Menschheitswerten zu verschaffen, letztlich also, Entwicklung und Bewusstseinserweiterung zu bewirken. Der Wert des Leids also liegt in der mit dem Leid gestellten Frage an das Selbst, in der Einladung an den inneren Erwachsenen, sich über die Beantwortung der Frage weiter zu entwickeln. Zur Erinnerung: Das Wort Leiden stammt etymologisch von dem althochdeutschen Wort lidan (mhd. liden) und bedeutet Fahren, Reisen, Erfahren.
Die Liebe weiß aber auch um den Schmerz, den das Leid mit sich bringt und wie schwer auszuhalten es für jede und jeden ist. Weil das eigene Herz schon oft schmerzvoll aufgebrochen wurde, vor allem durch den Verlust geliebter Lebewesen, kann man sich einfühlend vorstellen, wie es anderen in ähnlichen Situationen gehen könnte. Zwar weiß man damit noch lange nicht genau, wie ein anderer Mensch sich in einer gegebenen Situation fühlt, so ein Wissen zu behaupten hätte nichts mit Empathie zu tun, aber über die Resonanz schwingt man mit, erfasst die Schwingung des Anderen, fühlt sich ein und empfängt so die Untertöne, die subtilen Botschaften, die Gefühle von Schmerz und Verzweiflung und Angst. Jetzt kann man spiegeln, was man empfangen hat, und kann durch das eigene empathische Wahrnehmen dem Gegenüber helfen, sich selbst wahrzunehmen. Man kann dem Mitmenschen Worte anbieten, die ihm*ihr helfen, die Gefühle zu erfassen.
Dem geschlossenen Herzen, das nie Leiderfahrung an sich herangelassen und verarbeitet hat, fehlt die Empathie, fehlt die Fähigkeit, empathisch zu mentalisieren. Das Herz muss leider getroffen und wirklich berührt werden, damit die Psyche genötigt wird, sich zu entscheiden: für oder gegen seine Wahrheit und seine Werte, für oder gegen das Selbstmitgefühl. Ohne die Leiderfahrungen (sofern sie verkraftet werden) gäbe es kein Mitgefühl in der Welt als wichtiger Wert und Bestandteil der Güte und damit des Fortschritts (die Güte ist der Menschheitswert zum kosmischen Wert des voranschreitenden Wandels).
So schwer das selbst erfahrene und bezeugte Leid zu ertragen ist, so notwendig ist es, damit der Mensch sein Herz öffnet und in seine Empathie hineinfindet. Nur aus eigener Erfahrung kann sie*er sich vorstellen, was die Welt durchmacht und entwickelt den Willen, die Umstände mitzugestalten und einen empathischen Beitrag zu leisten, damit das Leid gemildert, vielleicht irgendwann sogar gebannt wird.
© Ariela Sager