6 – Erzählungen

Eine der wichtigsten Fragen über das individuelle Menschsein ist die Frage nach dem, woran der Mensch glaubt und wie er in die Welt schaut (die Gretchenfrage). Auf diesem Glauben und auf dieser Weltanschauung basieren alle Erzählungen (Narrative), die wir uns selbst und anderen über uns, unser Leben, unsere Erfahrungen, unser Verhalten und unsere Potenziale erzählen. Wir erzählen uns selbst und einander ständig über die Vergangenheit und die Zukunft, und jede dieser Erzählungen deutet und beeinflusst die Gegenwart. Im schlimmsten Fall zweifeln wir in diesen Erzählungen an allem, negieren jede Sinnhaftigkeit von Leben (vor allem aber des eigenen Lebens) und sprechen allem, was ist, Entwicklungspotenzial und Wert ab. Entsprechend armselig fühlt sich das Leben an, das wir leben, ein Leben nämlich, in dem die Seele keinen Platz erhält, ihren Reichtum einzubringen. 

Im ebenso schlimmen Fall, der von den so lebenden Individuen aber als weniger leidvoll erlebt wird, spielen sich die Erzählungen im Gegenpol ab und basieren auf Illusionen und Selbstbild- und Wirklichkeitskonstruktionen. Der Zweifel (Passivpol) wie auch die Illusion (Aktivpol), die den Zweifel betäuben soll, haben nichts mit der Wahrheit zu tun. Illusionen verstellen den Blick auf die Realität und auf das tatsächliche Potenzial eines Menschen und seines Lebens. Möglicherweise lebt das Individuum mit seinen Illusionen ständig an seinem Potenzial vorbei, und das, ohne es zu merken. 

Der Hochmut, mit dem diese Erzählungen erschaffen und präsentiert werden, ist hier das Angstmerkmal zu einer Urangst, die tatsächlich die Seele betrifft. Im Menschen angelegt ist das Grundbedürfnis nach Transzendenz. Transzendiert werden will das Ego zugunsten des Selbst (Zugang zu den humanistischen Werten), und dann noch einmal das Selbst zugunsten des höheren Selbst (Zugang zur Seele und zum kosmischen Bewusstseinsstrom). Solange der Mensch im Ego hängen bleibt und sich nicht darüber hinausentwickelt und sich nicht davon emanzipiert, sein Leben in den konditionierten Strategien und Mustern der Kindheit zu absolvieren, solange sendet die Seele die Alarmbotschaft, dass sie sich unvollständig fühlt. Diese Unvollständigkeit wird als Verletzung der seelischen Integrität wahrgenommen, als seelische Fragmentierung. Die fehlende Bewusstseinsentwicklung gegenüber dem seelischen Potenzial ist ihre Grundlage. Um in die Ganzheit zurückzufinden müsste das Individuum sich möglichst viele innere Instanzen und Kräfte erschließen, müsste viele der zwölf Lebensqualitäten verwirklichen (zumindest mal die für seine jetzige Inkarnation potenziell erreichbaren) und müsste sich in den für ihn*sie relevanten Lebensthemen auf den Weg zu sich selbst machen. Verweigert der Mensch diesen Weg, weil er*sie die Anstrengung oder auch die Erkenntnisse scheut, die seine*ihre bisherige Weltsicht hinterfragen könnten, fühlt er*sie sich unvollständig, krank, verletzt. Die Angst vor der Verletzung (dem Nichtganzsein) der seelischen Integrität ist hier die zugehörige Urangst.

Aus der Verweigerung der Selbstwerdung (also einer systematischen Erschließung des Selbst durch eine tiefgehende humanistische Bildung, der möglicherweise eine therapeutische Arbeit vorausgehen kann oder sollte) ergibt sich ein unerträgliches Fehlverhalten – unerträglich für sich selbst und für andere. Man konfrontiert sich selbst und die Umwelt permanent mit seinen kindlichen Überlebensstrategien und einem insgesamt unreifen Verhalten. Um den Eindruck, den dieses unreife Verhalten hinterlässt, zu kompensieren, werden legitimierende Erzählungen erzeugt. Diese Erzählungen rechtfertigen die Rache, die Diskriminierung, die Ausbeutung von Mensch und Natur, die Bevormundung, die Abwertung, das Genörgel und die Rechthaberei und sogar Gewalt, Mord und Krieg. Sie kaschieren die hinter diesen Verhaltensweisen liegenden Emotionen des Verletztseins, des Schmerzes, der Einsamkeit, der Gier, der Eifersucht, des Neids, der Leblosigkeit und der Unzulänglichkeit. Aber sie ändern nicht die Haltung und nicht das Verhalten, mit dem man seine seelische Integrität fortwährend insofern verletzt, als man selbstentfremdet agiert und sich unangemessen, andere verletzend, diskriminierend, bedrängend oder belästigend verhält.

Je nach Grad der Verzweiflung werden diese Erzählungen mit einem Grad an Hochmut vorgetragen (der sich oft auch in der Körper-, vor allem der Kopfhaltung niederschlägt), der den Weg über den Missionarismus hinein in den Fanatismus nehmen kann. Der Rassismus und sein Terrorismus sind typische Beispiele für eine solche kaschierende und legitimierende Erzählung eines unsäglichen Fehlverhaltens die minderausgereifte Menschlichkeit betreffend.

Wenn die Urangst davor, dass die Seele nicht in ihre Ganzheit zurückfindet und womöglich fragmentiert bleibt, irgendwann überwunden werden soll, geht der Weg über die Yin-Kraft der Hingabe an etwas, das größer ist als man selbst. Für viele Gläubige ist das noch heute die Religion, die Narrative in Form von Legenden, Mythen und Gleichnissen anbietet. Sie zeigen sowohl die Missstände auf, die die Menschheit aus dem paradiesischen Zustand des Einsseins vertrieben haben (das Pendant zum Narrativ der fragmentierten Seele), als auch Wege der Rückkehr in die Einheit der Menschheit mit den höheren Mächten oder in den seelischen Einklang mit dem Kosmos. 

Die seelische Integrität ist am Ende ein Bewusstsein dafür, dass nicht die Seele fragmentiert ist, sondern die Psyche in ihrem beschränkten Bewusstsein für die Ganzheit des Individuums. Solange ungehobenes Potenzial im Dunkeln liegt, weil die Selbstwerdung nicht unternommen wurde, hat die Psyche nur Fragmente ihres Selbst erschlossen. Ihr fehlt die Verbindung zwischen diesen Fragmenten. Diese Fragmentierung durch hochmütige Erzählungen von vermeintlicher Überlegenheit überspielen zu wollen, führt in eine Beschämung hinein, die häufig immerhin als Korrektiv fungiert und irgendwann das Erwachen einläutet, mit dem die Erzählungen einer Überprüfung unterzogen werden. Jetzt begibt man sich auf den Weg der Transformation. Der Weg beginnt mit dem ersten Schritt raus aus der Illusion, ein überlegener Geist, womöglich sogar ein*e Auserwählte*r zu sein, jedenfalls etwas Besonderes zu sein, dem die Götter und Göttinnen oder in der modernen Spiritualität die geistige Welt eine besondere Gunst zuteilwerden ließen. Der Weg wahrer Spiritualität beginnt mit der Erkenntnis, dass es nur um die Bewusstseinserweiterung hin zur nächsten Entwicklungsstufe geht, die jeder Mensch erreichen kann. Das Grundbedürfnis nach Transzendenz wird nicht durch hochmütige Erzählungen und Illusionsbildungen erfüllt, sondern indem jenseitige Seelenanteile ins Bewusstsein integriert werden, indem man – vielleicht über die Meditation, wenn man mag – seinem persönlichen Bewusstseinsstrom jenseits des bewussten (und konditionierten) Denkens lauscht.

© Ariela Sager

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