5 – Selbstbilder

Die Manipulation, die Lüge und der Betrug sind das Gegenteil zur Manifestationskraft. Aus Manipulation, Lüge und Betrug entstehen bloße Selbstbild- und Wirklichkeitskonstruktionen, die keine Substanz haben. Das, was man darstellt, würde man gerne sein, aber man ist es (bisher noch) nicht. Die Selbstbildkonstruktionen verweisen durchaus auf das Potenzial eines Menschen. Wäre dieses Potenzial verwirklicht, hätten wir es mit dem Urbild des Menschen zu tun und nicht mit seinen Selbstbildern. Die Selbstbildkonstruktionen sprechen von der schmerzvollen Situation, dass das Selbst bisher nicht erschlossen wurde (und nur als inneres Bild vorliegt), obwohl man sich sehr danach sehnt, mit sich selbst und diesem inneren Bild identisch zu sein. Darum stehen Lüge, Betrug und Manipulation auch mit der Selbstsucht in Verbindung. Die Psyche krankt (Sucht kommt etymologisch von dem Wort Siechtum) an einem Mangel an Selbstsein. Stattdessen regiert das Ego (also ein Mangel an allem, was mit dem Selbst zu tun hätte), und dieses Ego hat nichts mit dem zu tun, wer der Mensch eigentlich sein könnte, wenn er*sie ganz er*sie selbst wäre. 

Im Ego ist ein Mensch von sich selbst entfremdet, aber er*sie ist nicht er*sie selbst. Das Egoverhalten ist also bereits eine Lüge über sich selbst. In der Selbstbildkonstruktion soll über diesen ersten Selbstbetrug mit einem zweiten Selbstbetrug hinweggetäuscht werden, statt den Selbstbetrug zu beenden, indem man wirklich der*die wird, der*die man in Wahrheit ist. Statt zu werden, wer man in Wahrheit ist, gibt man vor, jemand zu sein, der*die man sein könnte, der*die man aber der inneren Reifeentwicklung nach bisher noch nicht geworden ist. Erwachsene, die auf den Selbstbetrug anderer als Fremdbetrug hereinfallen – „ich finde immer nur Männer, die sich am Ende doch nur bemuttern lassen wollen“ – unterliegen ihrerseits bereits einem gegenpoligen Selbstbetrug. Die beiden (Selbst-)Betrüger*innen teilen die gemeinsame Urangst vor Mangel und das Grundbedürfnis nach Konsistenz, das sie vom jeweils anderen („der besseren Hälfte“) hoffen, erfüllt zu bekommen.

Das Ego, das die Selbstbildkonstruktionen ausführt, entspricht dem alleingelassenen inneren Kind. Und allein gelassen ist es von dem inneren Erwachsenen. Jenseits dieser Modellmetaphorik handelt es sich um die konditionierten kindlichen Überlebensstrategien, die von den Emotionen geführt, die aber nicht von der Vernunft flankiert werden. So kommt es zu einem emotionalen und irrationalen Verhalten. Ein mental-rationales Verhalten würde die Emotionen des Mangelempfindens als Hinweisgeber auf unerfüllte Bedürfnisse verstehen und sich dann werteorientiert (Mentalität) der selbstverantwortlichen Erfüllung der tatsächlichen Bedürfnisse widmen (Rationalität). 

Dass wir uns darum bemühen, unsere Grundbedürfnisse nach Kontrolle (1. Dreieck), Lebendigkeit (2. Dreieck), Selbstwertempfinden (3. Dreieck), Verbindung und Beziehung (4. Dreieck), Konsistenz (5. Dreieck), Transzendenz (6. Dreieck) und Autonomie (7. Dreieck) zu erfüllen (das sind die wahren Bedürfnisse hinter allem, was die Gier uns unter dem Deckmantel unserer Wünsche suggeriert), ist nicht nur legitim, sondern zu einem gelingenden Leben auch notwendig. Kinder, deren Grundbedürfnisse nicht gestillt werden und die daher einen emotionalen Mangel fühlen, versuchen sich auf zwei mögliche Arten über den Mangel hinwegzuhelfen: Sie versuchen, die Empfindungen zu kontrollieren und versuchen dazu, so gut es geht, mit der Außenwelt zu kooperieren (Passivpol) oder sie versuchen, den Mangel zu kompensieren und etwas an der Außenwelt zu verändern oder von ihr zu erhalten (Aktivpol). Im Passivpol erleiden sie den Mangel. Im Aktivpol versuchen sie ihn zu bekämpfen

Schon in der Pol-Zuordnung ergeben sich die beiden größten Selbst- und Fremdbildkonstruktionen: das „Opfer“ und der*die „Täter*in“. Denn die Strategien, die einem Kind in Eigenregie zur Verfügung stehen, spielen sich in den instinktgesteuerten Überlebensmechanismen Flucht (Passivpol), Kampf (Aktivpol) oder Erstarren (passiv-aggressives Kontinuum) ab. Aus dem psychologischen Beschreibungsinstrumentarium heraus werden diesen Polen je nach Lebensthema entsprechende Stereotype zugeordnet, wie zum Beispiel im Lebensthema Selbstwert die Begriffe „der*die Narzisst*in“ (Aktivpol), „das Sonnenscheinchen“ (Passivpol) oder „der*die Märtyrer*in“ (passiv-aggressives Kontinuum). Hinter diesen Fremdbildzuschreibungen (niemand würde sich selbst so bezeichnen, außer um mit den Begriffen zu kokettieren oder aus echter Selbsterkenntnis, die bereits die Emanzipation von diesen Erscheinungen einleitet) stehen von außen beobachtete Strategien, mit denen ein nunmehr erwachsener Mensch weiterhin mit kindlichem Instrumentarium versucht, seine Grundbedürfnisse an anderen zu befriedigen. Der Beobachtung nach versucht ein solcher Mensch weiterhin, Zuneigung, Anerkennung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung (erwachsene Werte also) zu erzwingen, zu erpressen, zu erschmeicheln oder herbei zu manipulieren (durch ein kindliches Verhalten also zu erlangen). Die Lüge und der Betrug der Selbstbildkonstruktion, vor allem der Selbstüberhöhung, aber auch verschiedener anderer Selbststilisierungen, wie die zum armen Opfer und ungeliebten Waisenkind, gehören in dieses manipulative Repertoire der Grundbedürfnissicherung. 

Derzeit ist der Entwicklungsstand der Mehrheit der Menschen der, dass die Begegnungen konditionierterweise dualistisch ablaufen. Man verbindet sich miteinander über die Resonanz gegenüber einer gemeinsamen Urangst (das Grundbedürfnis, in dem ein Mangel empfunden wird, z. B. zwei einsame Menschen) und begegnet einander dann antagonistisch in den Verhaltensgegenpolen (z. B. der Typus „das bedürftige Kind“ und „die bevormundende Mutter*der bevormundende Vater“). Deshalb bilden die beiden Sprichworte „gleich und gleich gesellt sich gern“ (die Angst oder das Mangelempfinden betreffend) und „Gegensätze ziehen sich an“ (das Überlebensprogramm betreffend) überhaupt keinen Widerspruch. Im konditionierten Denken stehen nur diese beiden Pole – Aktivpol und Passivpol – zur Verfügung, um sein Leben zu gestalten (und der aktiv-passive Pol oder das passiv-aggressive Verhalten ergibt sich aus dem Wesen des Kontinuums, das sich zwischen den beiden Extremen aufspannt). In dieser dualistischen Sicht auf die Welt ist man entweder „Opfer“ oder „Täter“, frisst oder wird gefressen, und es gibt nur Strategien, um die Wahrscheinlichkeit des einen oder des anderen zu beeinflussen. So werden Kinder zumeist erzogen, selbst dann, wenn Eltern glauben, sie würden es nicht tun. (Solange sie die Dreiecksfläche jenseits der antagonistischen Dreiecksbasis nicht aktiv und bewusst erschlossen haben, tun sie es, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist.) 

Innerhalb dieser Weltsicht und der sich daraus ergebenden Erzählungen über das Leben, spielt man im Passivpol das dualistische Spiel mit (und gibt biblisch-metaphorisch gesprochen das Schaf). Im Aktivpol versucht man, das Spiel zu seinen Gunsten zu ändern (und gibt philosophisch-metaphorisch gesprochen des Menschen Wolf). Dass die meisten Menschen jenseits der Extreme unter anderem durch Erziehung und therapeutischer Erfahrung eher Schafswölfe sind, ändert nichts an der Beschaffenheit des Spiels und an der Teilnahme an diesem Spiel. Der Name des Spiels lautet: Dualismus. Und der Gegenstand des Spiels ist der Kampf des vermeintlich Guten gegen das vermeintlich Böse. Die meisten Menschen glauben, Ziel des Spiels sei es, das vermeintlich Böse (in sich und in der Welt) zu besiegen, und dann bliebe das Gute übrig. Auch das ist eine Fremdbildzuschreibung, in diesem Fall über das Leben. Das Leben, könnte man es fragen, würde sich gegen diese Zuschreibung verwahren, eine bloße Gelegenheit zum Kampf zu sein. Das Leben würde sagen: Wenn das Spiel Dualismus heißt, dann hast du mehr als eine Wahl: Spiel mit (Passivpol), ändere das Spiel (Aktivpol) oder – und dieses Oder ist anders, als wir bisher dachten nicht, spiel ein manipulatives doppeltes Spiel auf beiden Seiten (passiv-aggressives Kontinuum), sondern, spiel gar nicht (das gesamte restliche Beziehungs- und Entwicklungsdreieck). Spiel einfach gar nicht. Steig einfach aus. Erkläre es nicht mehr zu deinem Spiel. Gar nicht zu spielen stellt zwar eine Art des Rückzugs dar, aber es ist ein erwachsener, würdevoller Rückzug aus dem würdelosen Spiel.

Wenn uns jemand Lüge, Betrug, Manipulation und Provokation anbietet, können wir aufgrund unserer Selbstbilder im jeweiligen Gegenpol oder auch im gleichen Pol oder in einer Mischung aus beiden Polen auf die Spieleinladung eingehen und mit einer Gegenwehr oder mit Rückzug antworten, mit Geschrei oder mit Verstummen, was den Kampf am Laufen hält. Oder wir steigen aus dem Spiel zwischen den unreifen Kräften aus, emanzipieren uns von der großen Angst, im Mangel unterzugehen, und bedienen uns polarer und reifer Kräfte, die als Haltung (Yin) und Eigenkraft (Yang) in uns bereitstehen. Statt die Energie in der Selbstbildkonstruktion und dem mühsamen Aufrechterhalten der so entstandenen Selbstbilder zu verschwenden, könnte sie in die Aktivierung und Kultivierung der Vernunftkräfte investiert werden. Diese Investition wird sich auszahlen in Form von Ressourcen, die uns nähren, vielleicht aber auch in Form einer Ernte, die sich aus unserer Selbstwirksamkeit im Weltgeschehen ergibt. 

Als Alternative zur unreifen Überlebensstrategie, seine Grundbedürfnisse von anderen Menschen sichern zu lassen und den Mitmenschen dazu belügen, betrügen, bedrängen und manipulieren zu müssen, steht dem vernunftbegabten Menschen die Selbstbeelterung – oder jenseits der Modellmetaphorik die Selbstverantwortung – zur Verfügung. Sie ist Teil der Selbstwerdung, die keinen Selbstbetrug mehr braucht, damit das Leben nach außen und vor sich selbst als gelungen wirkt, ohne es zu sein. Die Selbstwerdung ist bereits im Prozess dasjenige, was das Leben tatsächlich gelingen lässt – und den Kampf automatisch beendet, weil er überflüssig wird. Um die Selbstwerdung geht es nämlich. Sie sichert alle Grundbedürfnisse.

Das dualistische Spiel hat seine Berechtigung und auch die Selbstbildkonstruktion hat sie, aber nur als Wegweiser und Hinweisgeber auf die innere Wahrheit, die erschlossen werden will. Wenn das Ziel die Integrität des Menschen ist, sein Ganz- und Vollständigsein in sich selbst, sein Selbstgewordensein, dann liegt der Weg dorthin jenseits des dualistischen Spiels voller Ketten, Gefängnisse, Waffen, Kriegsschauplätze, Zerstörung und Ausbeutung. Der Weg beginnt mit der inwendig gestellten Frage: „Ist es das, wer ich wirklich bin?“ Diese Frage hat eine doppelte Bedeutung. Erstens: Bin ich wirklich (schon) erlebbar die*der, die*der ich behaupte zu sein? Und zweitens: So, wie ich tatsächlich erlebbar bin, bin ich darin denn wirklich ich selbst? Die erste Frage deckt den Selbstbetrug auf, mit dem man über ein egozentrisches Verhalten und den tatsächlich erlebbaren Mangel an Integrität hinwegzutäuschen versucht. Die zweite Frage deckt den Betrug auf, den man an sich selbst begeht, indem man sich sich selbst und der Welt vorenthält, solange man dieses Selbst verleugnet, versteckt und herabwürdigt.

© Ariela Sager

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