4 – Fesseln

Durch so vieles fesseln wir unser Herz und unseren Geist und hindern uns am Weitergehen und am Wachsen. Alles, was wir nicht verzeihen können, hält uns gefangen, lange bevor wir dieses Gefangensein nach außen projizieren, indem wir andere Menschen an ihrem Weitergehen und Wachsen zu hindern versuchen. Der Mensch, der sich selbst gestattet, eine erlebte Geschichte hinter sich zu lassen, weiterzugehen, an ihrer Integration zu wachsen und dabei näher zu sich selbst zu kommen, braucht keine anderen Menschen festzuhalten. So steht das Nicht-Verzeihen (wobei mit Verzeihen das Verarbeiten durch den inneren Erwachsenen und das Verkraften durch dessen Werte gemeint sind) in einem direkten Zusammenhang mit der Eifersucht. Wenn ein Erlebnis nicht verkraftet werden konnte, stellt die Erinnerung an die erlebte Verletzung und an den Schmerz, wie auch die Angst vor der Wiederholung dieses Schmerzes eine Fessel dar. Emotional fordert man Genugtuung und Wiedergutmachung vom Anderen für das durch ihn*sie Erlittene. Man meint, das Ende der Geschichte mit dem*der Anderen dürfe nicht das Ende sein, weil man von irgendetwas noch nicht genug erlangt habe und irgendetwas noch nicht wieder gut geworden sei. Diese Emotionen gehen vom inneren Kind aus, das dieses „Noch-nicht-genug“ und das „Noch-nicht-wieder-gut“ spürt, ohne zu wissen, worum es sich dabei handelt. Was ist noch nicht genug und was ist noch nicht wieder gut geworden? Die Antwort des inneren Kindes lautet: die Liebe. Aus seiner Perspektive sei es nicht genug geliebt worden und mit der Liebe in seinem Leben sei es noch nicht wieder gut geworden, und der*die Beziehungspartner*in sei ihm dieses Genug an Liebe schuldig geblieben.

Damit bindet man sich energetisch an den Menschen, der einen gerade verlassen hat, nämlich an die Erwartung, dass die*der Andere leistet, was man von ihr*ihm zu brauchen meint. Solange sie*er die erwartete Leistung nicht erbracht hat, darf sie*er auch nicht weitergehen, darf keine neue Beziehung eingehen, darf nicht glücklich sein, denn dann wäre ihr*sein Geist von der noch ausstehenden Aufgabe abgelenkt, der*dem im emotionalen Defizit lebenden Expartner*in doch noch zu geben, was den vermeintlich durch die Trennung entstandenen Mangel kompensieren könnte. Aus dem immensen Schmerz heraus, den so ein Mangelgefühl verursacht, klammert man sich an die*den getrennt lebende*n Partner*in und beschimpft die*den neuen Partner*in in rasender Eifersucht.

Die Fessel, die man dem*der Anderen ganz oft schon während der Beziehung anlegt, besteht aus dem Angstmerkmal der Eifersucht oder des abhängigen Bindungsstils und der Urangst vor Verlust und Einsamkeit. Das unerfüllte Grundbedürfnis ist das nach Verbindung und Beziehung. Aus der Angst vor der Beziehungslosigkeit und der Einsamkeit und der so wachsenden Verlustangst fesselt man sich auch selbst oft an Beziehungen, die beiden Beziehungspartner*innen überhaupt nicht guttun. Die Fessel äußert sich innerhalb der Beziehung in Akten der Überfürsorglichkeit und der Bevormundung.

Nicht gut tut eine Beziehung, in der die Partner*innen nicht wachsen können, in der sie nicht über das Erleben mit dem Anderen mehr über sich selbst erfahren, sich ihrer selbst nicht bewusster werden und nicht näher zu sich selbst hinfinden. Wenn in der Beziehung schon die Fessel vorliegt, von der Beschränktheit des*der Anderen selbst beschränkt zu werden und die*den Andere*n durch die eigene Selbstbeschränkung zu beschränken, dann ignoriert eine solche Beziehung das Wesen der Liebe. Das innere Kind hat dann Recht mit seinem Gefühl, dass es mit der Liebe noch nicht wieder gut geworden ist. 

Die Liebe als spiritueller Wert ist das höchste Bewusstsein dafür, dass wir alle aus derselben Quelle stammen und uns alle auf der individuellen Reise zurück zu dieser Quelle in uns selbst befinden. Wer sich diesem Unterwegssein eines Menschen in den Weg stellt und ihn am Weitergehen hindert, handelt der Liebe zuwider. Somit hat Eifersucht alles mit Angst, aber rein gar nichts mit Liebe zu tun, denn die Eifersucht verkennt, dass keineswegs der gesamte Weg mit nur einem einzigen Menschen zusammen gegangen werden kann.

Die Eifersucht versucht gefangenzuhalten, weil man sich selbst gefangenhält, wo man eigentlich durch die Aufarbeitung des Erlebten sein Bewusstsein erweitern und eine Schicht der Gefängnismauern, bestehend aus Angst und Schmerz, sprengen sollte. Ein aktiv und sogar produktiv verkrafteter Verlust führt nicht zur Eifersucht, auch wenn der Weg über den Schmerz und die Trauer (und viele veröffentlichte oder unveröffentlichte Gedichte, Songtexte, Romane und abgeschickte oder auch nicht abgeschickte Liebesbriefe) geht. Das innere Kind kann eine solche Trauerarbeit nicht allein leisten. Solange es allein bleibt (wir uns also ausschließlich von unseren Emotionen leiten und von ihnen sogar überrollen lassen), bleiben wir im Schmerz gefangen. Erst wenn der innere Erwachsene (später im Leben) auf den Plan tritt und das innere Kind liebevoll in seine Obhut nimmt, Verständnis zeigt und für neues Wohlbefinden sorgt, kann ein Verlust in eine Ressource verwandelt werden. Dann wächst der Mensch an der Erfahrung von Leid über das Leid hinaus. Der innere Erwachsene weiß, wie das geht. Das innere Kind weiß es nicht, aber es kann lernen, dem inneren Erwachsenen zu vertrauen. Die Initiative dazu muss allerdings – wie im Zusammenleben zwischen Kindern und Erwachsenen üblich – vom inneren Erwachsenen ausgehen, weshalb es ein bestimmtes Alter braucht, bevor diese Initiative intrinsisch motiviert ergriffen werden kann. Es ist das Alter zwischen 21 und 28 Jahren, die Phase, in der das Handeln mit den Werten abgeglichen wird und die Erfahrungen aus dem persönlichen Verhalten auf die Haltung zurückstrahlen. Der innere Erwachsene muss sich dem inneren Kind dann als vertrauenswürdige Instanz anbieten, damit das innere Kind den Klammergriff und die Fesseln, die es anderen anlegt, lösen kann.

Der innere Erwachsene wird im Fall der aufzulösenden Eifersucht und der emotionalen Abhängigkeit das Wertepaar Selbstempathie (Yin-Kraft) und Selbstfürsorge (Yang-Kraft) bilden. Indem diese beiden Instanzen der Yin- und Yang-Kraft das innere Kind in ihre Mitte nehmen und es emotional versorgen (der erwachsene Mensch sich also selbst beeltert), bieten sie ihm die Ressource des Selbstvertrauens als inneres Zuhause an. Dieses Zuhause ist kein Gefängnis, sondern ein Ort, von dem aus man seine Reise begehen kann, an den man zurückkehren kann und von dem aus man erneut aufbrechen kann, ganz, wie es für ein (inneres) Kind sein sollte. Aus der Perspektive dieses Ortes wird eine Trennung oder ein Verlust stets einen neuen Aufbruch vorbereiten. Zu dieser Vorbereitung werden das Verzeihen und das Gehenlassen in Liebe gehören, das Gehenlassen in dem Bewusstsein also, dass wir uns alle auf der Reise befinden und diese Reise mit wechselnden Gefährt*innen vollbringen sollen. Das wird sein, wenn die Eifersucht nicht mehr notwendig sein wird, weil der Verlust nicht mehr eine so immens große essentielle Angst darstellt, das Leben würde ohne die*den Anderen nicht weitergehen und die Reise sei mit dieser Trennung auf immer beendet. Denn das ist es, was das innere Kind unbewusst empfindet, wenn es die*den Partner*in festzuhalten und alles Neue im Leben der*des Anderen eifersüchtig zu bekämpfen versucht. Es glaubt, es könne die Reise allein nicht fortsetzen. Oder aus positiver Perspektive betrachtet: Menschen, die keiner Eifersucht bedürfen, weil sie sich trotz des Alleinseins nach einer Trennung nicht einsam fühlen, berichten davon, dass sie sich in der Kunst, der Literatur, der Philosophie, überhaupt in der Kultur zuhause fühlten. Über die aktive Teilhabe an der Kultur geht die Reise weiter, wächst der Mensch geistig, auch ohne von einer engen Beziehung zu einem Mitmenschen abhängig zu sein. 

Der Schritt, über die Eifersucht hinaus zu gehen und nicht etwa zum*zur Stalker*in zu werden, wird gelingen, sobald man sich fragt: „Was ist eigentlich das wahre Wesen der Liebe? Bin ich wirklich auf der Welt, um mit Liebe gefüttert zu werden? Oder bin ich vielleicht auf der Welt, um durch meine Liebe mich und andere zu nähren?“

© Ariela Sager

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