Vollständigkeit des Menschen und integrales Bewusstsein

Obwohl Charakterologien, Typologien sowie psychologische und spirituelle Modelle in der Regel den Menschen auf einen Typ und einen dominierenden Charakterzug und ein oder zwei Urängste und Angstmerkmale etc. reduzieren (um vor allem die Komplexität in der Modellanwendung zu reduzieren), glaube ich nicht an die Zulässigkeit einer solchen Reduktion. Ich glaube, wir tragen alle Lebensqualitäten in uns und verkörpern und verwirklichen sie unserem seelischen und psychischen Reifegrad nach schon mehr oder noch weniger. Die stereotypen Verhaltensweisen der emotionalen Bedürftigkeit und der Bevormundung zum Beispiel, die dualistischen Angstmerkmale zur Angst vor Verlust, Isolation und Einsamkeit, tragen jeweils die Lebensqualitäten Gesellschaft und Fülle in sich, verwirklichen sich aber aus der Angst und den Mangelgefühlen heraus als Kontrolle, Manipulation und Kompensation statt aus dem Ideal der Empathie und den Eigenkräften der Fürsorge, der Loyalität und der Freundlichkeit heraus. Darum wird die Lebensqualität zwar noch nicht verwirklicht, aber sie wird ersehnt und damit gefühlt, weil sie Teil des Menschen ist. Der Unterschied zwischen der Sehnsucht und der Verwirklichung liegt in der humanistischen Bildung, die das Wissen darüber liefert, was dem Menschen zur Verwirklichung seiner Sehnsucht jenseits des konditionierten Denkens und Handelns möglich ist.

Die Dreiecke bieten eine Möglichkeit, sich darüber zu orientieren, wo man in seinem Leben oder in einer konkreten Situation gerade steht, wo man hinwill und welcher Weg dorthin führt. Und dann kann man ihn eigentlich ganz gut angeleitet gehen, den Weg zurück zu sich selbst.

Die drei Bewusstseinsebenen

⅓ des menschlichen Potenzials: Mythisches Denken.

Denken in Geschichten und Dramen, dualistisches Denken in Aufteilungen von Tätern und Opfern und Denken in Gegensätzen. Schwarz-Weiß-Denken. Mit dieser ersten Ebene des Bewusstseins nutzen wir nur ein Drittel unseres menschlichen Potenzials. Involviert ist in der Hauptsache das Nervensystem. Das Fühlen, Denken und Handeln unterliegt dem Ego und seiner Emotionalität und Irrationalität. Das Ego ist ein Synonym für die Ansammlung aller Ängste, Mangel-, Unzulänglichkeits- und Minderwertigkeitsgefühle und deren konditionierte Bewältigungsstrategien. In einem der psychologischen Modelle wird das Ego durch das alleingelassene innere Kind verbildlicht. Alleingelassen ist das innere Kind vom inneren Erwachsenen. Der innere Erwachsene ist die Metapher für den gesunden Menschenverstand, eine gesunde Einstellung, eine ethische Haltung, ein aktives Bewusstsein für die humanistischen und schöpferischen Werte. Auf der ersten Ebene sind sie nicht aktiviert und nicht ins Alltagsbewusstsein integriert. Die Handlungen fallen gewöhnlicherweise impulsiv, im Sinne von unbeherrscht und unbedacht aus. Handlungen zielen vor allem auf das eigene Wohl in den Polen Kontrolle und Kompensation, berücksichtigen aber das Wohl der Gemeinschaft oder das eines Gegenübers nicht aktiv und bewusst. Es herrscht mehr ein Denken, dass die Gemeinschaft sich dem Wohl des Individuums unterzuordnen habe und dass die Aufgabe des Gegenübers darin besteht, einen glücklich zu machen. Hier wird manchmal von “gesundem Egoismus” gesprochen, mit dem man erst für sich selbst sorgen sollte. Egoismus aber ist nie gesund. Der Egoismus kann nämlich keine echte Fürsorge leisten, auch keine Selbstfürsorge, das kann nur das Selbst. Der Egoismus (das alleingelassene innere Kind) kann nur kontrollieren und kompensieren. Ihm fehlen die gesunden Ich-Kräfte. Ein gesundes Ich dagegen ist in Form von Charakterstärke möglich, indem die zweite Bewusstseinsebene aktiviert und das Ego mit den Werten verbunden wird. In der Verbindung aus innerem Kind und innerem Erwachsenen kommt es zur Bildung des Selbst. Hier entsteht die Selbstverbundenheit. Die Angst- und Mangelgefühle (und eventuell auch die individuellen und kollektiven Traumata) werden auf der nächsten Ebene integriert und verantwortet. Auf dieser ersten Ebene hier reproduzieren die Mangelgefühle ständig die gleichen Verhaltensweisen zur Mangelverwaltung (Dissoziation, Projektion, Übertragung)  und/oder zur Mangelkompensation (Distanzslosigkeit, Übergriffigkeit, Manipulation).

⅔ des menschlichen Potenzials: Mental-rationales Bewusstsein.

Humanistisches Abwägen und Bedenken. Spontaneität. Bedachtsamkeit. Der innere Erwachsene nimmt das innere Kind in seine Obhut. Das Selbst. Mit der Impulsivität nicht zu verwechseln ist die Spontaneität. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen dem nun in Obhut genommenen inneren Kind und dem inneren Erwachsenen. Fühlen, Denken und Handeln basieren jetzt auf der Berücksichtigung der persönlichen Bedürfnisse und der Bedürfnisse einer Gemeinschaft im Geist humanistischer und schöpferischer Werte. Auf dieser Ebene werden das limbische System und die Großhirnrinde benutzt. Da das limbische System mit seinen Botschaften dessen, was das Individuum fühlt, geübter und schneller ist, braucht es vor dem Handeln einen Moment des Innehaltens, damit auch die Großhirnrinde anspringen kann. Ist diese neuronale Verbindung stabil hergestellt, braucht es kein Innehalten, sondern der Altruismus springt dann so natürlich an, wie bei anderen Menschen der Egoismus. Falls das Innehalten aber noch notwendig ist, überwindet es die Impulsivität zugunsten der Spontaneität. Respekt, Empathie und Güte sind die dominantesten Einstellungswerte, die die Haltung auf dieser Bewusstseinsebene ausmachen. Der motorische Cortex wird sich den Werten entsprechend betätigen, wenn er sich der Bedürfnisbefriedigung widmet. Hier kommt das gesunde Ich zum Tragen. Der Mensch bedient sich zu seiner Bedürfnisbefriedigung aus seinen persönlichen Ressourcen. Im Zustand dieser Bewusstseinsentwicklung schöpft ein Mensch bereits zwei Drittel seines menschlichen Potenzials aus. Die Verhaltensweisen sind keine Musterreproduktionen und (von Algorithmen) berechenbare Automatismen, sondern spontane und kreative Aktionen, mit denen sich das Individuum aktiv und wirklichkeitsadäquat auf seine Umwelt bezieht, Beziehungen pflegt und sich initiativ engagiert.

3/3 des menschlichen Potenzials: Spirituelles Bewusstsein.

Einssein mit der Natur der Realität. Hier ist nicht das kindlich-magische Denken gemeint, das an fantastische Wunder und Feen glaubt, sondern gemeint ist ein erwachsenes, geerdetes spirituelles Bewusstsein für die eigene Manifestationskraft und die dieser Kraft innewohnenden spirituellen Fähigkeiten. Für dieses Bewusstsein wird der präfrontale Cortex bemüht. Natürlich erfolgt das Fühlen über das limbische System, das Denken über die Großhirnrinde, das Handeln über den motorischen Cortex, aber alle drei Vorgänge werden vom individuellen seelischen Bewusstseinsstrom angereichert, der seinerseits mit dem kosmischen Bewusstseinsstrom in Kontakt steht. Kluge Entscheidungen, heißt es in der Neurowissenschaft, werden aus dem präfrontalen Cortex heraus getroffen – um so mehr, je öfter man ihn verwendet. In der Verbindung aus menschlichem Wertesystem und kosmischem Bewusstseinsstrom wird das höhere Selbst aktiviert, das im präfrontalen Cortex seinen biologischen Ort hat. Obwohl das Innehalten vor einer Aktion noch etwas intensiver ausfallen und einen kurzen meditativen Zustand annehmen kann, um von einer Intuition erreicht werden zu können, entbehrt das Handeln nicht der individuellen Spontaneität. Sie wird stattdessen um die Inspiration bereichert. Inspiration und Intuition werden häufig ausgelöst von den inneren Fragen: Was würde die Weisheit oder die Liebe jetzt tun oder was würde der Heilung, der Werterfüllung oder dem Fortschritt am besten dienen? Wie kann ich wirklich hilfreich sein? Begibt man sich dann in eine Haltung der Gelassenheit, kann der ganze Mensch dienen, indem er*sie in die Gelegenheit hineinfühlt, sich auf seine Werte besinnt, entsprechend besonnen spricht und handelt und von einer höheren Einsicht über den Wert und das Wachstumspotenzial der gegebenen Situation inspiriert wird. 


1 (Ganzheit) Integrales Bewusstsein: Die drei Bewusstseinsebenen miteinander verzahnt.

Alle drei Bewusstseinsformen integrierend. Die Voraussetzung, um sein volles menschliches Potenzial zu nutzen, ist 1.) die Integration der Angst- und Mangelgefühle (einschließlich der individuellen und kollektiven Traumata) und die Emanzipation von ihrer Dominanz. Es ist 2.) das Geübtsein im wert- und liebevollen Denken und Handeln notwendig. Das Wesen des eigenen Selbst muss gut verankert sein, damit es sich möglichst automatisch und mit geringer Verzögerung den gefühlten Bedürfnissen zur Seite stellt und die Regie übernimmt. Die Ressource des Selbstvertrauens, mit der das innere Kind vom inneren Erwachsenen aus  der eigenen Fülle heraus so versorgt wird, dass es sich im Selbst zuhause fühlt und darum nichts zu seiner Bedürfnisbefriedigung von Anderen ersehnen muss, ist eine gute Voraussetzung, um empfangen zu können, ohne geben zu müssen und geben zu können ohne empfangen zu müssen, ohne also von der Frage gedrängt zu werden: Und was ist mit mir? Was bringt mir mein Engagement oder was nützt mir diese Beziehung? Und 3.) braucht es spirituelle Bildung oder die Einweihung in die Funktionsweise und in das Potenzial des Menschseins. Das Bewusstsein muss über das mythische Denken hinaus erweitert werden, bis es alle drei Bewusstseinsformen umfasst und die drei Bewusstseinsebenen gleichberechtigt auf derselben Ebene miteinander verzahnt sind.

© Ariela Sager

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