Der Anfang des Dreiecks

Im Jahr 2015 kam ich einmal in die Gelegenheit, in einer digitalen Community unter hochsensiblen Menschen (HSP) ein Dreieck zu skizzieren. Ich wollte damit eine Konfliktdynamik illustrieren, von der dort erzählt wurde, und das Dreieck kam mir dazu intuitiv in den Sinn. Ich bin ausgebildet als Literaturwissenschaftlerin und Schreibtherapeutin. Das Dreieck, das ich verwendete, war das aristotelische Dramadreieck, mit dem in der Poetik die Entwicklung einer fiktionalen Figur abgebildet wird. Die Psychologie kennt ebenfalls ein Dramadreieck, verwendet es aber nicht aristotelisch als Entwicklungsdreieck, sondern zur Illustration von emotionalen Abhängigkeiten. Der Begriff „Drama“ meint hier nicht eine Erzählgattung, sondern es bewertet einen Konflikt. Das in der Psychologie verwendete Dreieck wurde wiederum von dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre in dem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ auserzählt: Drei Menschen befinden sich in der Hölle, wobei die Abhängigkeiten um die jeweils unbefriedigten Grundbedürfnisse herum die Hölle der drei Personen darstellen. Deshalb lautet der Schlüsselsatz des Stücks: „Die Hölle, das sind die anderen“. Und diese Art von Hölle lässt sich mit dem psychologischen Dramadreieck illustrieren.

Das aristotelische Dramadreieck beschreibt dagegen ein Bühnengeschehen, wie es dem aristotelischen Spannungsbogen in fünf Akten folgt. Die klassischen Stücke und Märchen (und die allermeisten Erzählungen bis heute) sind nach diesem Erzählschema aufgebaut: Zu Beginn wird sich der*die Held*in der Veränderungsbedürftigkeit seiner*ihrer Verhältnisse bewusst und fühlt sich vom Ruf des Abenteuers erreicht, sich auf die Reise zu machen (1. Akt). Der erste Lösungsansatz scheitert, weil der*die Held*in die Verhältnisse lediglich umzukehren versucht, statt sich von ihnen zu emanzipieren (2. Akt). Dann tritt eine überraschende Wende ein, ein*e Mentor*in tritt auf oder eine Vision, ein Traum, eine Inspiration liefert ein neues Material, von dem sich das Denken in ein höheres Bewusstsein transformiert (3. Akt). Der*die Held*in folgt nun seiner*ihrer persönlichen Neubestimmung mit einer entsprechend veränderten Handlungsweise (4. Akt). Und schließlich führt dieses Handeln die Lösung des Anfangskonfliktes in Form einer Emanzipation von der zugrundeliegenden Urangst und einem Transzendieren des Spannungsverhältnisses zwischen den Konfliktparteien herbei (5. Akt). Der*die Held*in kann nach Hause zurückkehren und seine*ihre Erkenntnisse auf die gegebenen Verhältnisse nun selbstwirksam anwenden. 

Auf der unternommenen Reise macht der*die Held*in eine persönliche Entwicklung durch. Diese Entwicklung bildet das aristotelische Dreieck ab. Mit diesem Dreieck werden sowohl die inneren Konflikte als auch die Emanzipation von den Konfliktgrundlagen (Ängste und unbefriedigte Grundbedürfnisse) und die durch die Emanzipation entstehenden Ressourcen skizziert, die dem*der Held*in bei seiner*ihrer Rückkehr in seine*ihre angestammte oder in seine*ihre wahre Heimat zum eigenen Wirken zur Verfügung stehen.

In der Fiktion der Erzählung sind an einem solchen Dreieck immer verschiedene Figuren beteiligt, weil die inneren Konfliktpositionen, die dem Helden*derHeldin nicht bewusst sind, genauso wie seine*ihre noch nicht von ihm*ihr erkannten Stärken auf andere Figuren projiziert werden. Ohne diese Projektionen würde auch gar keine Geschichte in Gang kommen und es gäbe nichts zu erzählen. Genau, wie im richtigen Leben. Wer nicht projiziert oder sich nicht als Projektionsfläche zur Verfügung stellt, nimmt am dramatischen Spiel nicht teil (was nicht das Schlechteste ist, wie sich zeigen wird).

Die alten Erzählungen von Leben sind archetypisch aufgebaut und bestückt. Genau deshalb ist Aristoteles auf den brillanten Gedanken gekommen, dass das Theater nicht nur das Leben abbilde, sondern dass das emotionale Verfolgen des Bühnengeschehens durch den*die Zuschauer*in einen psychohygienischen und damit therapeutischen Effekt habe, den er Katharsis nannte. Versteht man die Figuren auf der Bühne, versteht man ein Stück weit auch sich selbst besser. Leidet man mit den Figuren mit, kann man seine Affekte auf diese Art sozialverträglicher abführen, als sie an seiner Umwelt auszulassen und dort zwischenmenschliche Dramen und entsprechende Verletzungen zu verursachen. Das gilt für die Rezeption von Theater (und Literatur und auch Kunst im Allgemeinen), und erst Recht gilt es für die Kunstproduktion. Die von Aristoteles verfasste Poetik (ca. 335 v. Chr.) richtet sich mit ihrer Beschreibung der Funktionsweise der Tragödie sowohl an Theaterbesucher*innen, damit sie verstehen können, wie und wodurch die Stücke auf sie wirken, als auch an Autor*innen, damit sie entscheiden können, auf welche Art sie ihre Stücke aufbauen wollen.

Nachdem ich 2015 ein solches Dreieck intuitiv skizziert und in der besagten HSP-Community kommuniziert hatte, gab ich zu bedenken, dass ein solches Dreieck je nach literarischem Stoff, für den es skizziert würde, unterschiedlich aussehe. Die Konfliktpositionen verändern sich, wie auch die Werte je Dreieck unterschiedliche seien, die einerseits im Konfliktgeschehen verletzt werden, die aber andererseits zur Konfliktemanzipation führen können, sobald die Figuren sich auf sie besinnen würden. Ich könnte das noch mal an einem anderen Thema aufzeigen, bot ich an. Am Ende einer Zeitspanne von mehreren Wochen waren es sieben Dreiecksskizzen geworden, die mir dazu als die großen Lebensthemen die Urängste und Grundbedürfnisse des Menschen betreffend eingefallen sind, wie sie in der Literatur in sehr vielen Variationen als Stoffe behandelt werden. Sie hatten unterschiedliche Farben, diese Dreiecke, denn ich hatte sie damals mit den Energiechakren im Menschen in Verbindung gebracht. Die Chakren stehen ihrerseits für die großen Lebensthemen, Grundbedürfnisse, Urängste, Haltungen, Kräfte und Ressourcen, wie auch das jeweils zugehörige Charisma (die spirituelle Fähigkeit). In dieser Farbe, so berichten es aurasichtige Menschen, leuchten die Energiezentren.

© Ariela Sager

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