Wenn du Frieden willst, integriere den Krieg
Es braucht alle für den Frieden und einen für den Krieg, heißt es in einem Kommentar, der eine zusätzliche Waffenanschaffung legitimieren soll. Aber das stimmt absolut nicht. Ja, es stimmt, wenn man unter Frieden nicht tatsächlich Frieden, sondern ein Stillhalten im Passivpol versteht. Wenn man überhaupt nur zwei Pole denkt: einer ist Krieg und einer ist vermeintlicher Frieden oder eben „Frieden“, und wenn man verkennt – oder noch nie davon gehört hat -, dass es nicht nur zwei Pole gibt gibt, sondern drei: Einer ist der Passivpol, einer ist der Aktivpol und einer ist der tatsächliche Frieden. Dieser tatsächliche Frieden liegt nicht zwischen den beiden Polen „Krieg“ und „Frieden“, das ist nur der Passivaggressive Pol und bestenfalls ein vorübergehender Ruhepol, ein instabiler Zustand jedenfalls, der beim kleinsten Windstoß in die eine oder andere Richtung kippt. Dieser tatsächliche Frieden liegt jenseits von „Krieg“ und „Frieden“. Wir nennen ihn Integrität. Individuelle und kollektive Integrität führt zu tatsächlichem Frieden.
Das fragile Gleichgewicht, das wir im dualistischen Denken „Frieden“ genannt haben, wird in der Tat schon von einem einzigen Aggressor im Aktivpol zerstört. Wenn sich alle im Passivpol aufhalten oder im fragilen Ruhepunkt, braucht es nur einen für Krieg. Wenn diese „alle“, die nicht mal alle sein müssen, aber in ihrer integrierten Mitte sind, dann stimmt der Satz nicht mehr. Dann haben sie, die integren Menschen, dem Auftoben des einen unreifen Menschen etwas entgegenzusetzen. Um in die Integrität zu gelangen, mussten ja gute Strategien entwickelt werden, um sich auf reife und erwachsene Art zu behaupten. Es musste sich mit den eigenen Erfahrungen von Ohnmacht, Verzweiflung und Schmerz auseinandergesetzt werden, um Integrität zu erreichen. Das ist die unabdingbare Voraussetzung für Integrität. Erwachsene und integrere Menschen benutzen dann keine Waffen mehr, sondern ihre Vernunft, um sich zu behaupten. In der Vernunft sind alle eigenen Erfahrungen mit Angst, Schmerz und Ohnmachtsgefühlen integriert und können aus der Erinnerung abgerufen werden, um das wütend tobende Kind abzuholen, sowohl das eigene innere Kind als auch ein fremdes inneres Kind. In der Vernunft sind aber auch Werte und Eigenkräfte integriert, mit denen dem tobenden Kind Grenzen gesetzt werden können. Aus den universalen Werten der Menschheit die persönlichen Werte abzuleiten, für die man steht, ist ebenfalls unabdingbarer Teil der Entwicklung von Integrität. Die so entstehende Haltung setzt dann die notwendigen Grenzen, nicht die Waffen. Aus der Integrität heraus ist ein einzelner Mensch bereits stark. Die kollektive Integrität würde uns Waffen ersparen können, wo die kollektive Haltung den ihr gebührenden Platz einnimmt und Ängstlichkeit und Schmerz ersetzt und auch das Herüberrücken in die Wut und in den Zorn und in die Empörung, die als Emotionen zu nichts weiter als weiterem Krieg führen.
Die kollektive Integrität würde uns Waffen ersparen können. Damit ist nicht gemeint, dass ein Volk im Passivpol zu seinen Aggressoren keine Waffen haben sollte oder braucht, um sich eben den Aggressoren gegenüber zu verteidigen. Der Passivpol ist aber auch nicht der Frieden. Stillhalten, Schweigen, Selbstverleugnung, sich klein machen und zustimmen, besänftigen und gewogen machen und dann vielleicht Transparente zu Demos zu tragen und weiße Tauben fliegen zu lassen, sind nicht Frieden. Mit den Transparenten und denn Tauben werden in das Versteck des Passivpols zwar Friedenssymbole hereingeholt, in der Hoffnung, es ginge als Solidaritätsbekundung durch, was es bei den sich bedroht und verlassen fühlenden Adressaten auch tut, aber es sind erstmal nur Symbole, es ist noch nicht der Frieden. Aber der Aggressor packt uns bei unseren Ängsten, bei unseren nicht integrierten Verletzungen und bei den bis heute schmerzenden Wunden und den uns unsicher machenden Erfahrungen. Solange wir ihnen gegenüber in unserem Versteck bleiben und uns weigern, unsere innere Arbeit für den Frieden zu leisten, können unsere antrainierten Erwachsenenimitationen und unsere Pseudodiplomatie dem Aggressor nichts entgegensetzen. Der Aggressor reißt uns die Maske einfach herunter und demaskiert unsere Schwächen, egal, ob wir eine Waffe in der Hand halten oder nicht und selbst dann, wenn wir die Waffe mit dem Zorn und der Wut und der Empörung halten, die wir im Herüberrücken in den Aktivpol kurzfristig in uns aufwallen lassen konnten, wird es ihn kaum aufhalten in seiner eigenen Mischung aus Wut und Zorn. Wut und Zorn und Empörung sind nur die Gegenseite der Angst und der Hilflosigkeit. Über die gemeinsame Angst ketten wir uns an den Aggressor. Nur unsere Integrität kann uns von ihm befreien.
Erst wenn für jede angeschaffte Waffe sich ein Mensch auf den Weg zu sich selbst macht und den Mut und die Kraft aufbringt, sich den eigenen inneren Dämonen zu stellen, die notwendige innere Arbeit zu leisten, die zur Herstellung von Integrität notwendig und unerlässlich ist, wenn für jede Waffe ein Mensch auf die Transparente schreibt, um welche Angst und um welchen Schmerz er*sie sich jetzt sofort kümmern wird, erst dann wird das Freilassen weißer Tauben zum Symbol dafür werden, dass wir die Sinnanfrage, die der Krieg an jeden von uns stellt, erwachsen und singstiftend zu beantworten wussten. Erst dann können wir von Frieden sprechen. Wenn uns der Aggressor dann die Maske der Stärke herunterreißt, ist dahinter immer noch Stärke. Und das macht Aggressoren Angst. Mit unserer Stärke, die bleibt, auch wenn die Maske der Konvention fällt, packen wir sie bei ihren eigenen Ängsten und bei ihrem Schmerz und bei ihren nicht verheilten Wunden und ihren Unsicherheiten. Wir werden als integre Menschen aber anders mit ihnen umgehen, als sie vorher mit uns. Wir werden einen neuen Weg beschreiten und einen neuen Umgang vormachen. Wenn sich einem einzelnen Aggressor eine große Menge wahrhaft starker Menschen entgegenstellt… nun es käme auf einen ersten Versuch an, aber stellen wir uns die Situation doch im ganz kleinen vor: eine Schulhofsituation. Eine größere Gruppe souveräner Schüler*innen, die Vernunft und Liebe ausstrahlen und die dem*der mobbenden Mitschüler*in und seiner*ihrer kleinen Anhängerschaft entgegentreten und entschieden darüber sind, dass sie Vereinnahmung und Machtmissbrauch nicht länger dulden, die ihre guten Strategien anwenden, die sie zur Befriedung des eigenen inneren Kindes erlernt haben, die das potenzielle Mobbingopfer aus der Situation herausführen und ihm nicht erlauben, sich länger als Opfer zu sehen und zu verhalten, die auch beharrlich jedes Mal wieder aufstehen, wenn der*die Klassentyrann*in in seine*ihre alten Muster zu fallen droht…
Interessanterweise braucht es nicht mal „alle“, die sich dem Tyrannen entgegenstellen. Es braucht nicht alle für den Frieden. Es braucht eine in sich solidarische Gruppe von zwanzig Prozent. Es braucht diejenigen sensiblen Wesen, die jede Gesellschaft beherbergt und die zur Ausbildung ihrer Integrität, ihrer Synchronizität und ihrer Stabilität fähig sind. Es braucht, dass sie ihren Passivpol der Selbstzweifel und der Mutlosigkeit und der Lethargie verlassen und in ihre Mitte kommen. Ihre Solidarität aber ist dann eine erwachsene Yang-Kraft. Es ist eine Kraft, die das Wesen der Erzählung von Aggressor und Opfer erkennt, ihre Herkunft und die dahinterliegende Orientierungslosigkeit bezeugt, eine Synthese der beiden Erzählungen bildet, die Quintessenz extrahiert und dann hilft, die Erzählung zu transformieren. Solidarität ist nicht eine Kraft, die darin besteht, den Opferstatus aufrecht zu erhalten und die Täterschaft zu bekämpfen. Die Solidarität wird sagen: – Und ihr kümmert euch jetzt alle beide um eure Ängste, die euch aneinanderketten. Ich helfe euch dabei und wir können es zusammen machen. Dazu brauchen wir Ohren und Augen und vielleicht Stifte und Papier, aber keine Waffen. Wir brauchen den Zugang zu unserem eigenen inneren Eisberg, dem eigenen inneren Misthaufen, dem eigenen Sumpf und welche Metaphern auch immer beschreiben, was unter unserer Lethargie liegt wie auch unter unserem Aktionismus, unter unserer Passivität, die wir für Frieden halten, und unter unserer Aggressivität, die im Krieg enden kann. Es braucht den Zugang zu unseren eigenen Erfahrungen, wie sich das anfühlt, wenn man Verbindung, Sicherheit und Autonomie verliert und Angst bekommt. Mit der hoffentlich integrierten Erfahrung können wir als erwachsene und reife Menschen dann mitfühlen und das Verhalten anderer einordnen und können es sinnstiftend beantworten. Nicht das Verhalten, nicht die Aggression beantworten wir. Nicht vom letztmöglichen Verhalten an der Eisbergspitze lassen wir uns ablenken, vom Beworfenwerden mit dem Mist des Misthaufens, auf dem jemand sitzt. Stattdessen erkennen wir den Anderen in uns und beantworten die Sinnanfrage, die vom Anderen ausgeht auf der Basis unserer inneren Freiheit, wenn wir sie denn erlangt haben, auf der Basis unserer Selbst- und Nächstenliebe, wenn wir sie nicht süßlich naiv romantisiert verwenden, sondern verstanden haben, dass in ihr die Selbstwertschätzung und die Konsequenz enthalten sind, die Toleranz und die Abgrenzung und dass die Geduld eine Schöpferkraft ist und kein passives Abwarten und Nichtstun: Welche Möglichkeiten habe ich in diesem Moment, die Sinnanfrage, die das Leben mir in Form eines Beworfenwerdens stellt, aus dem heraus zu beantworten, wer ich bin? Das Wichtigste ist, dass wir dazu wissen, wer wir sind. Das ist die Grundvoraussetzung für Integrität und für tatsächlichen Frieden. Und das erfahren wir nicht über Waffen, das erfahren wir über Stift und Papier, weil Schreiben für das Gehirn wie Tun ist. Darum ist Schreiben über sich selbst, um sich selbst kennenzulernen, so wirksam für den Frieden. Noch wirksamer als Sprechen. Das Wichtigste, um Frieden herzustellen, ist, dass Menschen sich gesehen und verstanden fühlen. Dazu müssen wir zuerst uns selbst gesehen und verstanden haben. Dann können wir tatsächlich mit Diplomatie, echter wirksamer Diplomatie auftreten und mit dem anderen gemeinsam erarbeiten, wie er*sie sich seine*ihre Bedürfnisse über eine gute, menschenfreundliche, friedliche Strategie erfüllen kann. Denn letztlich bedeutet Frieden das Gleiche wie Erwachsensein: dass wir unsere Bedürfnisse kennen und wissen, dass sie hinter unseren Wünschen und Anliegen (und Großmachtsphantasien) stecken, dass wir sie selbst beantworten und erfüllen können und dass wir dafür gute Strategien haben, die keinen anderen Menschen und keine andere Nation vereinnahmen und beherrschen müssen. Frieden und Erwachsensein bedeuten aber auch, die eigenen Ängste zu kennen und sie be- und verantwortet zu haben, so dass wir niemandem gestatten müssen, uns zu vereinnahmen und zu beherrschen. Frieden heißt durchaus zu sagen: Es reicht, komm zu dir und besinn dich darauf, wer du bist und wer du nicht bist. Mit Waffen sagen wir allerdings weiterhin nur, wer wir nicht sind. Sie brauchen wir solange, wie wir auch nicht wissen, wer wir sind. Aber die Integrität würde es uns sagen und dann braucht es nicht alle für den Frieden, sondern nur viele, aberes braucht dann auch mehr als einen für den Krieg und einer alleine wird es schwer haben, Krieg anzuzetteln, wenn um ihn herum ein tatsächlicher Frieden der inneren Mitte herrscht und nicht nur ein fragiler Ruhezustand zwischen den dualistischen Polen.
Aufgrund unserer individuellen und kollektiv erarbeiteten Integrität werden wir dann in der Lage sein, den Zusammenhang zwischen Krieg und Frieden besser zu verstehen und tyrannische Regierungen nicht mehr als schicksalhaften Zufall zu sehen, der einem Volk ohne sein mentales Zutun widerfährt. Wir werden stattdessen in der Lage sein, die universellen Werte und Rechte des Menschseins in Geltung zu bringen und sie nach und nach in der Welt durch unsere Glaubwürdigkeit und Authentizität und die unserer Regierungen durchzusetzen, auch gegenüber Autokraten. Nicht, weil die Autokraten zur Vernunft gekommen einlenken würden, werden sie ihre Stellungen verlassen, sondern weil ihr Volk ihnen die mentale Legitimation entziehen wird. Es wird die einzig richtige Revolution stattgefunden haben, die nicht eine ist, die Regime stürzt und den Machthabern die legale Legitimation zu nehmen versucht, was nie dauerhaft gelingt, solange diese Regime die mentale Unreife ihre Volkes in dessen Gegenpol spiegeln. Ein reifes Volk, in dem sich die Individuen um ihre mentale Reifung und die Herstellung ihrer Integrität bemüht haben, wird eine reife und integre Regierung haben. Das ist die einzig nachhaltige Revolution, die möglich ist. Ein kollektiv integres Volk wird keine Politiker*innen mehr an seine Spitze bringen, durch Wahlen und durch Resonanz und Synchronizität, die es belügen, betrügen, bestehlen und sogar in den Krieg führen, eben weil das Volk sich nicht mehr in deren Gegenpol, sondern aufgrund seiner Emanzipation in seiner Mitte aufhält. Damit endet das Spiel der Gier und der Macht. Das alte lateinische Sprichwort, das in Kriegszeiten so oft zitiert wurde, „Willst du Krieg vermeiden, dann bereite den Krieg vor“ wird gegen ein neues Verständnis vom Zusammenhang zwischen Krieg und Frieden eingetauscht werden: „Wenn du Frieden willst, dann integriere den Krieg“. Sollen korrupte Politiker*innen und Krieg verschwinden, so werden wir es mit der Vollendung unserer Menschwerdung verstanden haben, dann müssen die Menschen in ihre eigene Integrität aufgestiegen seien, müssen Gier und Aggression in sich selbst befriedet haben, müssen ihre eigene Heilungsbedürftigkeit angenommen haben und müssen sich von den für ihren individuellen inneren Krieg verantwortlichen Ängsten emanzipiert haben.
Im Fall eines Krieges in anderen Ländern, die wir alle als befreundet ansehen werden, werden wir den Krieg dann als Sinnanfrage an unsere Humanität und Diplomatie begreifen, die auf Basis unserer Authentizität eine andere Autorität annehmen wird – eine ideale Vermittlerin ist eine Nation, die keinerlei eigene Interessen hat-, aber auch als Aufforderung, weiter an unserer persönlichen und kollektiven Integrität zu arbeiten, dem Ausbau unserer eigenen Integrität gegenüber wachsam zu sein und andere in ihrer Arbeit zu unterstützen. Wir werden eine angemessene humanitäre Hilfe leisten und zugleich in uns gehen und unsere anstehenden, durch die Resonanz übermittelten Hausaufgaben erledigen. Wir werden nicht mehr auf die Idee kommen, das Eine ohne das Andere zu tun und unsere Hilfestellungen nicht mehr mit der Energie falscher Motivationen belasten und verdunkeln, so wie wir auch Projektionen in beiden Polen unterlassen werden, um weder die Aggressorseite durch unsere Wut energetisch zu stärken noch die vermeintliche Opferseite durch unser Mitleid energetisch zu schwächen. Wir werden zentriert bleiben können und tun, was nötig und angemessen ist, indem wir die Sinnfragen erkennen und souverän beantworten aus dem heraus, wer wir sind: Verkörperungen des Friedens, die den Frieden verwirklichen.