Fünfzig Prozent Veranlagung
Die Quintessenz der Texte im Studierzimmer zum Schreibspiel bisher besteht in der These vom verehrungswürdigen Menschen. Die Neurowissenschaft sagt uns, dass unsere Persönlichkeit zu fünfzig Prozent veranlagt sei. Wir bringen sie von Anfang an mit ins Leben. Diese fünfzig Prozent sind unsere Ausgangssituation: Unser Stoff, aus dem wir bestehen, unsere Motive, die uns antreiben, unsere Themen, die wir zu bearbeiten haben. Stoff – Motiv – Thema, wie wir es aus der Literatur kennen. Für uns bedeutet das übersetzt: Der kosmische Aspekt, den wir verkörpern, unsere Emotionen, die uns motivieren und unsere Lebensthemen, die uns immer wieder neu begegnen, idealerweise jedes Mal auf der nächsten Entwicklungsstufe. So ausgerüstet starten wir ins Leben, mit den ersten 50 Prozent unseres Potenzials als Mensch.
Neuroplastizität
Unter dem neurowissenschaftlichen Stichwort der Neuroplastizität wird die Fähigkeit des Menschen gefasst, sich sein Leben lang weiterzuentwickeln und dabei die individuelle Gehirnstruktur zu verändern. Etwa weitere dreißig Prozent seiner Persönlichkeit, sagt die Neurowissenschaft, forme der Mensch im Jugendalter aus. In dieser Zeit findet die Myelinisierung des Neokortex statt. Das Gehirn wächst. Die Kognition bildet sich aus. Der Mensch wird über sein limbisches System hinaus denkfähig, antizipationsfähig, abstraktionsfähig, selbstregulationsfähig, selbstreflexionsfähig und analysenfähig. Vorausgesetzt, das Individuum lernt, die beiden Systeme miteinander zu verbinden und schafft es, dass der Neorkortex das limbische System in seine Obhut nimmt, wird der junge Mensch jetzt erwachsen. Im psychologischen Modell wird jetzt vom inneren Kind für das limbische System gesprochen und vom inneren Erwachsenen für den Neokortex. Der Neokortex muss aktiviert werden, indem er aktiv verwendet wird. Der Vorgang der Bildung bezieht sich nicht nur auf den neurologischen Vorgang der sich von selbst bildenden Myelinschicht, sondern er sollte sich auch auf das Denkvermögen beziehen. Eine neue Art zu denken muss ausgebildet werden. So aktiviert sich der innere Erwachsene, indem der Neokortex angesprochen und verwendet wird. Wird er nicht angesprochen und verwendet, schläft er und seine Kapazität liegt brach. Der Dialog mit sich selbst und der Welt wird weiter, wie bisher als Kind, über das limbische System geführt. Dieses Brachliegenlassen geschieht, wenn die Ansprache von außen weiterhin nur das limbische System anspricht, weil die Ansprache von dort nur von anderen limbischen Systemen ausgeht. Kommunizieren überwiegend limbische Systeme (oder innere Kinder) miteinander, wird der Neokortex (oder der innere Erwachsene) nicht angesprochen und nicht aktiviert und nicht mit dem limbischen System verbunden. Es stimmt also: Der Mensch ist im Grunde gut – aber unterentwickelt.
Gefühl und Verstand verbinden
Die Verbindung aus diesen beiden Systemen aber, dem limbischen System und dem nun herangereiften Neokortex ist die Verbindung aus Gefühl und Verstand. Das Selbst des Menschen entsteht, wenn der Neokortex mit dem limbischen System verbunden wird. Es entsteht, während und indem der junge Mensch angeleitet wird, seine Werte zu bestimmen und eine erwachsene Haltung seinen Bedürfnissen, Empfindungen, Gefühlen und Emotionen gegenüber einzunehmen und sich ihnen, also sich selbst gegenüber, entsprechend erwachsen zu verhalten. Am besten hätte jeder Mensch in dieser Zeit eine*n Mentor*in, der*die ihm*ihr in der Ausbildung des Selbst zur Seite steht, wie auch einen erwachsenen Menschen, der*sie ihm*ihr sagt (und darin glaubhaft wirkt), dass die Konsultation des*der Mentor*in wichtig für seine*ihre Entwicklung ist und dass er*sie sich dafür Zeit nehmen sollte.
Charakterstärke und Spiritualität
Die Neurowissenschaft sagt uns weiterhin, dass die restlichen zwanzig Prozent der Persönlichkeit noch im Erwachsenenalter ausgebildet werden. Es festigt sich das Selbst und wird zum Charakter eines Menschen, indem das eigene Handeln an den Werten ausgerichtet und auf seine Werthaltigkeit hin überprüft wird. Die kontinuierliche Selbstreflexion festigt nun das Selbst und festigt die Persönlichkeit. Der präfrontale Kortex kommt mit seiner Aktivität hinzu und macht auf der Basis eines gut ausgebildeten Selbst eine geerdete Spiritualität möglich. Erzählungen werden wie zuvor geliebt, werden nun aber auf ihre Metaerzählung hin betrachtet. Es wird über das Erzählen an sich reflektiert, über die Tatsache also, dass erzählt wird und darüber, dass alles Erzählung ist Es wird über den Inhalt der Erzählung reflektiert wie über dessen Auswirkungen auf die Realität. Es entsteht ein Bewusstsein dafür, was Erzählungen sind und auf welchem Weg sich die Erzählungen verwirklichen. In der Synthesebildung den Erzählungen gegenüber, wie sie auf der Welt existieren, wird sich der Wahrheit über das Menschsein angenähert. Nicht eine einzelne Erzählung umfasst die Wahrheit des Menschseins, sondern erst alle Erzählungen zusammen lassen auf die Wahrheit schließen. Der präfrontale Kortex verbindet sich mit dem Neorkortex und dem limbischen System zu dem, was die Spiritualität höheres Selbst nennt. Mit ihm sind Intuition, Inspiration und Medialität verbunden und möglich. Der Gebrauch des präfontralen Kortex in Verbindung mit dem Neokortex und dem limbischen System lässt den Menschen zu einer spirituell handelnden Persönlichkeit reifen. Die Reifung geschieht über die aktive Einnahme einer höheren Perspektive, in dem Bemühen, das große Ganze erkennen zu wollen.
Der Stand derzeit
Das Geheimnis hinter all dem, das in Wahrheit gar kein Geheimnis ist, sondern Eben den Namen Neuroplastizität trägt, lautet, dass das Gehirn sich lebenslang verändert, je nachdem, wie es verwendet wird. Wir können uns natürlich dem Menschenbild entsprechend verhalten, das manche Psycholog*innen uns von der Menschheit zeichnen als vom limbischen System beherrschte, manipulierbare und manipulativen Wesen. Ganze Bücher sprechen davon, dass das der derzeitige Entwicklungsstand der Menschheit sei und dass es mit der Menschheit kaum darüber hinaus ginge. In sozialen Kontexten käme es darauf an, sagen uns die Autor*innen, dass die Emotionsschwerpunkte der unreifen Persönlichkeiten so miteinander gemischt würden, dass sie sich gegenseitig halbwegs ausglichen. Was hier ausgeglichen wird, ist intrapersonal und interpersonal das dualistische Spannungsverhältnis zwischen Aktiv- und Passivpol.
Das menschliche Potenzial
Was uns aber die Weisheitstexte der Welt seit Jahrtausenden zusätzlich sagen und was die Neurowissenschaft also heute zu stützen vermag, ist, dass der Mensch sich über sein limbisches System hinaus entwickeln kann. Das entspräche nicht dem Vorgang des Ausgleichs, sondern dem der Emanzipation, und zwar der Emanzipation von der Herrschaft des limbischen Systems. Die Menschheit würde erwachsen werden. Es wird allerdings weder gesagt, dass sie es soll – kein Imperativ – noch, dass sie es wird – keine zukunftsgewisse Voraussage – sondern es wird immer nur gesagt, dass sie es kann. In diesem Können aber liegt ihre Verehrungswürdigkeit. Das menschliche Wesen kann sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens daran machen, sein Gehirn anders zu verwenden als nur im limbischen System und als in einem Persönlichkeitsstil, der den Neokortex lediglich konditionierte Gedanken reproduzieren und passende Emotionen erzeugen lässt, die das zumeist irrationale Handeln rechtfertigen. Das menschliche Wesen kann sich jederzeit dazu entscheiden, seine gesamte Persönlichkeit zu entwickeln, und es kann dazu auch im Erwachsenenalter noch die dreißig Prozent der Persönlichkeitsentwicklung nachholen, die eigentlich in der Jugend der Ausbildung einer werteorientierten Haltung hätten vorbehalten sein sollen. Das Individuum kann sich jederzeit dazu entschließen, dieses zweite System, das bisher nur so langsam und mühsam aktiv wird, nachdem das limbische System bereits angesprungen ist und mit emotionalen und konditionierten Inhalten längst gefeuert hat, so zu trainieren, dass es gewohnheitsmäßig als integrierter Teil der Persönlichkeit zeitgleich mit dem limbischen System aktiv wird. Dann würde das limbische System wie bisher seine Informationen aussenden, würde aber stets sehr zügig vom Neokortex und vom präfrontalen Kortex flankiert werden, bekäme quasi überall eine Mann-Frau-Deckung durch den gesunden Menschenverstand. Das Verhalten fiele dementsprechend vernünftiger aus: nicht manipulierbar und nicht manipulativ, stattdessen empathisch, dialogbereit, kooperativ und paritizipativ, frei und schöpferisch, tolerant und rücksichtsvoll, gütig und großzügig, respektvoll und hilfsbereit, aufmerksam und angemessen, ermutigend, anerkennend und unterstützend, freundlich, humorvoll, warmherzig und so weiter. Eben werte- und beziehungsorientiert.
Menschwerdung
Dieses Menschenbild vom möglichen, vom für seine Möglichkeiten verehrungswürdigen Menschen ist die vorläufige Quintessenz der Texte hier im Studierzimmer zum Schreibspiel. Wir Menschen sind viel mehr als wir derzeit darstellen. Wir können zu diesem Mehr werden, indem wir beginnen, unser ganzes Gehirn vollständig zu benutzen, um neuronale Verknüpfungen herzustellen, die die Gehirnregionen miteinander verbinden: Den inneren Erwachsenen mit dem inneren Kind und das höhere Selbst mit dem Selbst. Das ist unter dem Begriff der Menschwerdung gemeint. Sein Pendant in der Neurowissenschaft ist der Begriff der Neuroplastizität, wobei der Begriff der Neuroplastizität auch mit einschließt, dass das Gehirn sich in den Bereichen wieder zurückbildet, die nicht oder nicht weiter verwendet werden.
Bildung
Eine humanistische Bildung, die unser werteorientiertes Denken schult und darüber unseren Neokortex anspricht verhilft uns zu dieser Menschwerdung. Sie kann auf vielen Wegen erbracht werden, aber sie braucht immer das Nachdenken über sich selbst, das Nachdenken über das Denken, über das Fühlen, über das Handeln und über das Erzählen und also über das Sprechen. Es braucht die Betrachtung des Lebens auf den Metaebenen allen Geschehens. Ohne geht es nicht, den Weg der Menschwerdung zu beschreiten. Das ist eine Evidenz. Wir können sie auf unserem Planeten beobachten. Mit Hilfe der Betrachtung des Lebens und des Menschseins aber wird die Menschwerdung möglich. Und während es das Erzählen ist, das über das Denken, Fühlen und Handeln nachdenkt, ist es das Studierzimmer zum Schreibspiel, wie es auch das Schreibspiel selbst ist, das über das Erzählen und insbesondere über die darin enthaltenen Glaubenssatzsysteme nachdenkt. Denn unsere Erzählungen werden zu unserer inneren Wirklichkeit und unsere Wirklichkeit wird zu unserer äußeren Realität. Diesen Zusammenhang und diesen Prozess schauen wir uns über alle Textreihen hinweg an diesem Ort hier an oder haben es bis hierher getan.
©Ariela Sager